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Life is too short for boring stories

So saß Paul im gemieteten Lieferwagen, im dunklen Innenraum und ging in Gedanken den Ablauf nochmals durch. Es wäre nicht wirklich notwendig gewesen, denn seit er seinen Plan gefasst hatte, war er diesen wohl mehrere hunderte Male durchgegangen, aber wie jeder, auch nur halbwegs gute, Cineast weiß, diese Vorgehensweise ist unabdingbar, denn das wichtigste ist immer die Planung. Diese sah vor, dass er in dem Lieferwagen saß, in dem Moment, in dem die Lisi diese Stelle passieren würde, die Türe aufginge, er hinausspringe, das chloroformierte Tuch in der einen Hand, die er ihr fachgerecht auf Nase und Mund pressen würde, um sie mit der anderen aufzufangen, sanft auf die Ladefläche legte, um sie dann mit nach Hause zu nehmen, wo sie erwachte und ihn als ihren Retter identifizieren würde. So der Plan. Er war perfekt.

Paul saß und hielt gebannt den Sekundenzeiger der Uhr im Blick. Da kam Lisi, wie gewohnt pünktlich aus dem Gebäude und schlug den Weg ein, den sie immer ging. Er verfolgte weiter den Zeiger. Er hatte genau berechnet wie lange sie von der Haustüre bis zum Lieferwagen brauchte. Jetzt musste es so weit sein. Alles musste exakt ablaufen. Paul öffnete die Türe des Lieferwagens, sprang heraus und tatsächlich kam er direkt neben Lisi zu stehen. Er streckte bereits den Arm aus, um ihr das Tuch aufs Gesicht zu drücken, da geschah das völlig Unfassbare, da absolut unvorhersehbar. Eine rüpelhafte Gestalt mit breiten Schultern wollte offenbar partout zwischen ihnen hindurch gehen. Statt auszuweichen verschaffte sich diese Person Platz, indem sie sowohl Paul als auch Lisi zur Seite schubste. Wie es Lisi nach dem Frontalangriff durch den Brachialkerl erging, konnte Paul nicht mehr sehen, denn er fiel in den Lieferwagen, wobei er sich die Hand schützend vor das Gesicht hielt. Leider war es die Hand, in der er das chloroformierte Tuch hielt. Zwei Atemzüge später war er selig entschlummert. Das Mittel hätte also funktioniert, doch das war Paul in dem Moment einigermaßen egal, wie auch vieles andere.

Als Paul erwachte, musste er sich natürlich zunächst orientieren. Wenn er bloß wusste, wo er war? Hatte sich jetzt der Spieß umgedreht, da er vom Täter zum Opfer geworden war, zum Entführungsopfer? Da endlich wurde ihm bewusst, dass er in seiner eigenen Wohnung auf seinem Bett lag. Neben ihm saß die hünenhafte Gestalt. Auch diese erkannte er, doch es war kein Mann, sondern eine Mitarbeiterin aus der Verpackungabteilung. Wirr stand ihr das kurze Haar vom Kopf, die breiten Schultern hatte sie gestrafft und saß irgendwie verloren da. Mit einem Mal vergaß Paul alle Damen in Kleidchen und Hütchen und Stola, vergaß die Rollenverteilung und die vorgegeben Aufgaben, während er daran dachte, wie beruhigend es doch sein musste, sein müdes, alltagsgeplagtes Haupt auf solch einer breiten Brust, ruhen lassen zu können. War es ein Moment der Schwäche, der Selbstvergessenheit, der Konfusion? Paul wusste es nicht, aber er dachte auch nicht darüber nach. Wahrscheinlich wirkten die Chloroformdämpfe noch benebelnd auf seinen Verstand oder es führte dazu, dass sie seine geheimsten Wünsche freisetzten, so geheime, dass er sie selbst nicht kannte oder sie sich nicht einzugestehen wagte. Aber wie dem auch immer war, er setzte sich unvermittelt auf, den Schmerz und den Schwindel in seinem Kopf ignorierend, um seinen Kopf an diese breite Brust zu schmiegen. Im nächsten Moment hatten sich ihre Arme um ihn gelegt und hielten ihn fest, beinahe wie ein Wickelkind und er musste sich eingestehen, es fühlte sich an, wie bei Mama. Selig schloss er die Augen. Auf die süße, kleine Lisi hatte er völlig vergessen, während er die Geborgenheit genoss und die Umarmung. Mehr noch, alle Lisis dieser Welt konnten ihm gestohlen bleiben, mit ihrem Getue und ihren Zickereien. Eine echte Frau, so beschloss er, konnte mehr, viel mehr. Und warum sollte er sich mit einem Dämchen begnügen, wenn er eine echte Frau haben konnte, unverbraucht, stark und selbständig. Und Dana, so hieß sie, ließ sich das auch gerne gefallen. Schließlich gab es wenige Männer, die ihre Stärke nicht nur anerkannten, sondern sich darin auch noch wohlfühlten. Was für ein Glück, so schoss es Paul noch kurz durch den Kopf, dass der ach so perfekte Plan der Entführung, doch schief gegangen war.

Aus: Weibliche Ohn-machten

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