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Life is too short for boring stories

In dieser Nacht kam sie zu mir. Ich saß auf einem Ast der Trauerweide, ließ die Beine baumeln und überlegte wo ich meinen Bleistift hingelegt hatte. Nicht, dass ich nur diesen einen gehabt hätte. Nicht, aber genau jetzt hätte es dieser sein müssen. Ob Du ihn schon wieder verräumt hattest? Ob Du ihn vielleicht gar mitgenommen hattest, mit hinüber in Deine andere Welt? So konnte ich keinen einzigen Strich setzen, in dieser Nacht, ohne meinen Bleistift. So war ich in tiefen Gedanken verfangen, als sie kam. Auf dem Rücken trug sie einen schweren, geflochtenen Korb mit einem Deckel verschlossen. Er musste schwer sein, denn sie ging langsam und gebückt, so langsam und gebückt, als würde sie jeden Moment unter der Last zusammenbrechen. Schließlich hatte sie die Weide erreicht und stand nun unter dem Ast auf dem ich saß. Schwankend stand sie da. Kurz versuchte sie sich aufzurichten, doch der Korb drückte sie nieder. Sie beließ es bei diesem einen Versuch.

„Hallo! Hast Du meinen Bleistift gesehen?“, fragte ich sie ohne jede weitere Einleitung.

„Hallo! Nein, habe ich nicht. Ich bin doch gerade erst angekommen“, versuchte sie sich zu rechtfertigen, und dennoch kam es mir so vor, als würde ihr Korb in dem Moment noch ein wenig schwerer werden, als würde er sie noch ein wenig mehr niederdrücken.

„Schade. Ich hätte ihn unbedingt gebraucht, diesen, meinen Bleistift“, sagte ich achselzuckend, immer noch auf meinem Ast sitzend und die Beine baumeln lassend.

„Wir könnten ihn gemeinsam suchen“, bot sie zögerlich an.

„Das ist eine gute Idee“, meinte ich nur, und sprang nun doch endlich von meinem Ast herunter, so dass ich neben ihr im Gras zu stehen kam. Ich wollte ihr Gesicht, in ihre Augen sehen, doch dazu musste ich mich tief hinunterbeugen.

„Das ist sehr, sehr nett von Dir“, sagte ich heiter, denn nun musste ich zumindest nicht alleine suchen.

„Ja, ich bin nett“, bestätigte sie tonlos.

„Wir fangen hier im Gras an“, bestimmte ich. So suchten wir gemeinsam jeden Zentimeter Wiese ab. Sie hatte dabei einen unbedingten Vorteil, da sie der Korb so hinunterdrückte, musste sie sich nicht einmal mehr vorbeugen. Nur ich musste mich bücken. Da lag er allerdings nicht, der Bleistift.

„Wir könnten bei der Bank weitersuchen“, schlug ich vor, und auch da suchten wir vergeblich. Aber wir suchten weiter, am Steg, im Fährboot, am Weg zur Burg, doch er tauchte nicht auf. Enttäuscht ließ ich mich ins Gras fallen und bewegte meine Zehen im Wind. Sie stand ruhig neben mir, mit ihrem schweren Korb am Rücken und ich sah, dass ihre Augen noch immer suchend umherirrten.

„Lass es. Der wird schon wieder auftauchen“, sagte ich leichthin, doch sie reagierte nicht, machte viel mehr einfach weiter.

„Warum setzt Du denn nicht endlich Deinen Korb ab und Dich zu mir?“, fragte ich sie schließlich.

„Was für einen Korb?“, entgegnete sie verwirrt, doch endlich mit ihrer Suche innehaltend.

„Sag mal, willst Du mich veräppeln?“, erwiderte ich scharf.

„Nein, ganz bestimmt nicht“, sagte sie leise, und ihre Stimme war so geduckt wie sie es war. Es klang überzeugend, und dennoch unglaublich. Also stand ich auf und nahm ihr den Korb vom Rücken.

„Wahnsinn ist der schwer!“, rief ich unvermittelt aus, da er mich fast zu Boden gerissen hätte. Sie richtete sich auf, und es schien, als wäre es das erste Mal seit unendlich langer Zeit. Dann wandte sie sich verblüfft dem Korb zu.

„Dass ich den die ganze Zeit mit mir herumgeschleppt hatte und es noch nicht einmal merkte“, sagte sie kopfschüttelnd, und auch ihre Stimme klang freier.

„Was ist denn da drinnen?“, fragte ich neugierig.

„Keine Ahnung. Wie soll ich wissen was da drinnen ist, wo ich doch nicht einmal um seine Existenz wusste.“, erwiderte sie.

„Dann lass uns hineinsehen“, forderte ich sie auf, und gemeinsam entfernten wir den Deckel.

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