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Life is too short for boring stories

Als ich an diesem Morgen aus durchaus ruhigen Träumen, die ich trotz allem nach wie vor hatte, erwachte, geschah dies nicht ganz freiwillig. Es hatte sich ein Geräusch in eben jene Träume geschummelt, das ich sofort und messerscharf als eines diagnostizierte, das mit meinem Traum nichts zu tun hatte. Folgerichtig folgerte ich, dass es aus dem anderen Bereich, dem des Wach-seins kommen musste. Ein seltsames Geräusch, wie ein sanftes Fiepen, sanft, aber nachhaltig. Verschlafen sah ich mich um. Im Raum fand ich alles unverändert. Endlich wandte ich meinen Blick auch zum Boden, um endlich die Quelle ausfindig zu machen.

„Joy, Du kleiner Schlingel“, sprach ich den Draufgänger an, „Wie bist denn Du hierhergekommen?“ Offenbar hatte er sich auf Entdeckungsreise begeben und war bei mir gelandet, fand aber nun nicht wieder zurück.

„Komm“, sagte ich, während ich ihn ohne viel Tamtam aufhob und mit ihm zurück zu seiner Familie ging, „Wir schauen mal zu den anderen.“ Vorsichtig platzierte ich ihn neben seinen Geschwistern, die schon eifrig mit Trinken beschäftigt waren. Rasch hatte er sich auch seinen Platz gefunden und sog kräftig an der Brustwarze, schmatzende Geräusche von sich gebend.

„Was für eine Idylle!“, dachte ich, „Was für eine einfache, kleine Idylle, inmitten des Chaos würden sie sich auch ihren Platz finden, Hauptsache, sie sind zusammen und können füreinander da sein. Alles andere spielt keine Rolle.“

„Eine schöne Familie“, hörte ich eine Stimme hinter mir, die ich als die von Maria identifizierte.

„Ja, so sollte es sein“, erwiderte ich, ohne den Blick abzuwenden, „Wie die Familie draußen im Stall. Alles was sie wollten war ein Platz, an dem sie sein konnten. Auch die Kleinigkeit einer Geburt bedurfte eines ruhigen Ortes, wenn es sich fände, auch wenn es grundsätzlich möglich ist, an jedem Ort ein Kind auf die Welt zu bringen. Das fragt auch oft nicht lange. Aber in der Ruhe und Abgeschiedenheit ist es besser. Und dann natürlich irgendetwas, wo man das Neugeborene hineinlegen konnte, auch wenn es grundsätzlich auf der Mutter schlafen könnte. Alles ist möglich, aber so ein Platz, ein kleiner, für sich, das ist wohl kein unbedingt vermessener Wunsch.“

„Vermessen wahrscheinlich nicht, aber selbst das wird vielen Familien nicht zugestanden, nicht einmal das“, erwiderte Maria, „Flüchtlingsfamilien, die in Großraumbaracken untergebracht werden, wenn überhaupt, wenn man sie nicht gleich im Freien lässt, ohne jeglichen Schutz.“

„Wenn man sie überhaupt beisammen sein lässt“, gab ich zu bedenken, „Wenn man die Kinder nicht den Eltern entreißt und fortschafft, wer weiß wohin. Getrennte Familien. Auch aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten. Tagtäglich geschieht es, dass Eltern ihre Kinder zurücklassen, um irgendwo anders hinzugehen, weil es in ihrer Heimat keine Arbeit und kein Überleben gibt. Die Alten und die Kinder bleiben zurück. Ganze Dörfer gibt es mittlerweile, in denen es nur mehr Alte und Kinder gibt. Wenigstens sind sie nicht alleine. Immerhin. Trotzdem, eine Familie ist es nicht mehr. Die Eltern irgendwo und die Kinder eigentlich auf sich alleine gestellt. Die Verlierer unser globalen Massenausbeutung.“

„Und all die anderen Mitgeschöpfe, bei denen wir ohne viel nachzudenken, ständig Familien zerreißen, seien sie noch so klein, es ist eine Familie, die wir doch so hoch halten, als Keimzelle der Gesellschaft und sowas“, mischte sich nun Jesus ein, der wohl auch den Weg aus dem Bett gefunden hatte, „Kälber werden von den Kühen getrennt, Küken von den Hennen, Ferkel von den Mutterschweinen. Und sie können sich nicht wehren. Sie sind einfach nur verzweifelt, wie es jede Mutter wäre, der man ihre Kinder wegnimmt, und das immer und immer wieder, während ihres ach so kurzen Lebens.“

„Wir zerstören Familien, weil wir ihnen was wegnehmen, was für diese Kinder gedacht ist, und sei es nur, die Wärme und Geborgenheit einer Mutter“, meinte Maria.

„Wieso nur?“, fragte ich nach, „Ist es nicht genau das, was uns das Vertrauen ins Leben schenkt, aber diese Babies brauchen eigentlich kein Vertrauen ins Leben, weil sie nie eines haben werden. Viele von ihnen werden sofort entsorgt, manche erst später, aber letztlich werden es alle, auf irgendeine Art und Weise.“

„Und während das geschieht, wird die Familie, so wie es sich die konservative, bürgerliche Mittelschicht, mit Zähnen und Klauen verteidigt“, fügte Jesus hinzu, „Die Familie, wie sie sich gehört, das sind Vater und Mutter und die Kinder. Alles andere ist wider die Natur. Wie wir erfahren. Es ist wider Gottes Wille. Wie sie es interpretieren. Und diese Art der Familie wird als heilig erklärt, als sakrosankt. Weil es bei meiner Familie auch so war.“

„Ein Hort der Liebe und der Geborgenheit, sollte es sein“, überlegte ich, „Und dennoch gibt es nirgendwo so viel Gewalt, wie in der ach so tollen, bürgerlichen Kleinfamilie. Wie passt das zusammen?“

„Das ist ganz einfach“, erklärte Jesus, „Es ist einerseits der Erwartungsdruck, der darauf lastet. Die Menschen beobachten einander, vor allem im ländlichen Bereich. Man hat gewisse Vorstellungen von dieser Familie. Fleiß und Gehorsam. Unter anderem. Vor allem von Seiten der Kinder. Sie müssen dem Bild entsprechen. Geht es nach den Machern dieses Familienbildes, dann hat der Mann nach wie vor arbeiten zu gehen und die Frau übernimmt die Heimarbeit. Abhängigkeit ist das Ziel. Die Frau kann sich nicht so leicht befreien. Die finanzielle Unabhängigkeit der Frau ist ja deshalb Teufelszeug, weil sich der Mann nicht mehr jedes Recht herausnehmen kann. Früher konnte er sie schlagen, vergewaltigen und einsperren. Weil sie keine Wahl hatte. Doch wenn sie die Wahl hat, dann lässt sie sich das nicht mehr gefallen. Dann schnappt sie die Kinder und geht. Damit ist auch diese emanzipatorische Wende schuld am Zerfall der Familie. Nicht, dass man den Herren der Schöpfung sagen würde, behandelt Eure Frauen anständig, nein, lasst ihnen nicht die Wahl. Schlagen und vergewaltigen ist in Ordnung, zumindest im Rahmen der Familie. Dann wird die Türe zugemacht und niemand weiß. Sexuelle Übergriffe auf die Kinder. Auch das ist in Ordnung, so lange Stillschweigen darüber gehalten wird, denn die Kinder, die Frau sind das Eigentum, und mit Eigentum kann man schließlich machen was man will. Es darf nur keiner wissen. So dass nicht nur die schlimmsten Verbrechen innerhalb des Familienverbandes geschehen, sondern es wird auch permanent darüber gelogen. Alles ist gut, so lange die Fassade von Wohlanständigkeit aufrechterhalten wird. Verwerflich ist nicht die Tat, sondern das Ausplaudern. Es könnte dem Ruf schaden. Oder der Karriere. Deshalb würde man am liebsten das Mäntelchen des Schweigens darüberbreiten. Es geht niemanden etwas an, was innerhalb der Familie geschieht, und wenn nun dennoch jemand hinaustritt und es tut, dann wird er nicht etwa als Opfer gesehen, sondern als Nestbeschmutzer beschimpft.“

„Familie wird also entweder zerstört, wo sie funktioniert, wodurch auch immer“, fasste ich zusammen, „Oder sie zerstört sich selbst. Auch an Weihnachten.“

„An Weihnachten, wie an jedem anderen Tag des Jahres“, stellte Maria richtig, „Warum sollte es gerade da eine Ausnahme geben?“

„Weil es eben Weihnachten ist und weil im Zentrum der Botschaft von Weihnachten eine Familie steht, die noch dazu eine Immigrantenfamilie ist. Aktueller könnte das Thema gar nicht sein“, merkte ich an, „Fremde, die eine Unterkunft suchen, nichts weiter. Abgewiesen, fortgeschickt, verjagt. So wie heute, auch an Weihnachten, wie an jedem anderen Tag des Jahres.“

 

Und desto näher der Heilige Abend kam, desto größer wurden meine Zweifel. Hatte ich zu Beginn dieser Gespräche ein leichtes Unwohlsein verspürt, so war mittlerweile fast nichts mehr übrig geblieben, woran ich mich halten konnte, außer dem einen Punkt, die beiden Rosensträucher, das Leben und die Liebe, die Liebe und das Leben. Mehr gab es nicht. Blieb noch die Frage, an diesem 22. Tag des Advents, musste es denn mehr geben? Sollte ich mich tatsächlich an dieser Stelle zufrieden geben, eigentlich auch aufgeben? Wäre dann nicht alles umsonst gewesen? War es nicht ein Eingeständnis, ein Zugeständnis, dass es die Liebe ohne Besitzstreben, ohne Kontrolle und Vereinnahmung nicht geben konnte, dass es eben so war wie es war oder zumindest konstruiert wurde? Nicht einmal die Institutionen, in die ich die größte Hoffnung gesetzt hatte hielten letztlich einem strengen Blick stand. Was blieb dann noch, woran man sich halten, woran man glauben konnte? Oder lag es einfach nur daran, dass diese grundlegend guten Strukturen desavouiert und missbraucht wurden und wir nur die Kraft finden mussten die eigentliche innere Wahrhaftigkeit wiederzufinden und zu leben?

„Nein!“, sagte ich laut und deutlich zu mir selbst, „Es musste auch anders gehen. Menschen, die die Liebe in ihrer Lebendigkeit auch im Miteinander lebten. Irgendwo.“ Und dieser Gedanke schenkte mir Zuversicht, aufs Neue, denn alles was denkbar ist, ist auch mach- und damit lebbar. Zu Weihnachten und auch an jedem anderen Tag.

Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten

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