„Mit dem Vertrauen darauf und den Glauben daran, dass mich das Leben sicher leitet, dass es mir wohlgesonnen ist, trete ich hinaus in die Welt, folge meiner inneren Stimme und lasse mich von meiner Intuition führen“, hörte ich mich sagen, am Nachmittag des zehnten Adventes, an dem das Sonnenlicht wie goldener Regen durch die Fenster brach und die Kleinen nach begannen sie zu fangen, tapsig zwar noch, aber nachhaltig, „Und dann, eines Tages, völlig unvermittelt, wird einem alles verboten was Spaß macht und wenn man es nicht ganz lassen kann, dann wird es ins Verborgene verlegt. Es beginnt die Zeit der Moral im Leben eines Menschen, im Leben eines Kindes, vorerst. Es ist eine Zäsur zwischen der ursprünglichen Unschuld und der Erziehung zu einem moralisch integren Menschen. Es ist eine langwierige und schmerzhafte Prozedur. Und am Ende sind wir alle Zivilisationskrüppel, die überall moralische Fallen wittern, egal wohin sie sehen.“
„Ohne Moral gäbe es kein Zusammenleben“, hielt mir Jesus entgegen, „Doch es bedürfte keiner moralischen Normen, Ge- und Verbote, würden wir uns vom Leben und der Liebe leiten lassen. Was dem Leben entspricht und dem lebendigen Miteinander, das wäre alles, was es an moralischen Regeln bedurfte. Dann würde ich automatisch niemanden töten, niemanden verletzen, einsperren, vergewaltigen, würde nicht lügen, nicht betrügen, nicht hintergehen. Dann würde ich jedes Lebewesen automatisch mit jenem Respekt behandeln, den es verdient. So einfach wäre das. So lebte es bereits Lilith, dem Urinstinkt der allumfassenden Liebe folgend. Es kann nicht falsch sein.“
„Also verfolgt die Moral einem anderen Zweck als das Miteinander reibungslos verlaufen zu lassen, wenn das genügte“, warf ich ein, „Sie verfolgt – wie so vieles andere – den Zweck den Menschen klein und bedürftig zu halten. Schließlich ist er auch nichts anderes als ein soziales Tier, das sich in eine Gemeinschaft eingliedert, eingliedern muss, so weit er nicht außerhalb derselben stehen möchte, achtet der die moralischen Ge- und Verbote, die ihm eingetrichtert werden, immer und immer wieder, bis er es so sehr internalisiert hat, dass er reflexartig mit Scham reagiert, wenn er dagegen verstößt. Indoktrination nennt man das. Und fast immer handelt er dabei gegen seine innere Stimme, die doch dem Leben entspricht. Das entfremdet ihn von sich selbst und führt dazu, dass wir uns selbst nicht mehr trauen, denn wenn das, was meine innere Stimme sagt dem widerspricht, was mir gesagt wurde, dann muss eines davon falsch sein. Die, die mir sagen, was ich zu tun habe, wie ich mich zu verhalten habe um ein moralisch integres Leben zu führen, die sind die Autoritäten, die Bescheid wissen. Wenn die aber Bescheid wissen, dann müssen sie auch recht haben, und wenn sie recht haben, dann muss meine innere Stimme unrecht haben. So wird es uns eingeredet. Und wir laufen brav hinterher.“
„Es ist ein kleiner Tod auf Raten“, sagte nun Maria, „Ein Tod meiner selbst, immer ein Stückchen mehr. Mit Feuereifer haben sich die Führer einer Gemeinschaft darauf gestürzt einen moralischen Kodex zu erstellen, der so umfassend ist, dass er wie eine Mauer wirkt, die um einen herum errichtet wird, so dass man sich nicht mehr bewegen kann. Nicht mehr bewegen darf. Und besonders viel Interesse wurde immer schon der Sexualmoral gewidmet. Kannst Du Dich noch an die Zeiten erinnern, an denen Kindern die Hände in der Nacht ans Bett gefesselt wurden, weil sie masturbierten? Kannst Du Dich noch erinnern wie gründlich den Kindern der Bezug zum eigenen Körper ausgetrieben wird?“
„Ich kann mich nicht nur erinnern, es ist immer noch so“, erklärte Jesus, „Der eigene Körper, auch als Quelle der Lust, aber auch der Erfahrung, ist nach wie vor tabu. Nimmt man jedoch den Schöpfungsgedanken ernst, dann hat Gott den Menschen genau diesen Körper geschenkt, nicht dass er ihn verstecke oder so tut, als gäbe es ihn und seine Bedürfnisse nicht, sondern dass er Freude daran habe und eins mit ihm ist. Die Zersplitterung von Geist und Körper führt zu einem immerwährenden Krieg mit mir selbst. Die Körpermaschine neben dem überlegenen Geist. Dabei ist es erst der Körper, der es dem Geist ermöglicht sich zu entfalten. Er ist sein Träger, aber nicht nur.“
„Generationen von Kindern wurde damit eine angstfreie, freudvolle Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Sexualität verwehrt“, meinte ich, alles überdenkend, „Wie lange galt Homosexualität als psychische Krankheit?“
„Bis zum 17. Mai 1990“, klärte mich Jesus auf, „Da endlich strich die WHO sie von der Liste.“
„Also vor ungefähr 28 Jahren. Bis dahin wurden Homosexuelle verfolgt, geächtet, eingesperrt, und was weiß ich was alles“, fuhr ich fort, „Aber dennoch ist die Homophobie lebendig. Die Volksseele lässt sich offenbar von der WHO nichts vorschreiben, und was gegen die Norm ist, kann nicht richtig sein. Spannend ist, dass in erster Linie in konservativen Strukturen diese Art der Feindlichkeit gegen das Andere besonders ausgeprägt ist.“
„So auch in christlichen Kreisen, in Deinem Namen, lieber Jesus, werden Homosexuelle immer noch als Menschen zweiter Klasse behandelt“, sagte Maria herausfordernd.
„Besonders da, aber nicht nur in christlichen, auch in allen anderen Religionen, theistischen Religionen“, gab Jesus zu, „Und ich muss sagen, das schmerzt mich schon zu sehen, wie sehr sich die Menschen das Leben selbst schwer machen, sich belasten mit Doktrinen, die nicht nur nicht dem Leben dienen, sondern diesem sogar vehement widersprechen.“
„Woher kommt das?“, fragte ich nun, „Warum kann der Mensch nicht, wie jedes andere Tier, einfach leben, ohne sich selbst zu reglementieren, ja zu kastrieren, indem er sich von der Lebenskraft entkoppelt? Warum kann er nicht einfach lieben und leben, leben und lieben?“
„Weil es ihm offenbar zu wenig ist“, meinte Maria sinnend, „Weil es zu einfach ist. Deshalb muss er all diese verwinkelten und verschrobenen Konstruktionen bauen, die doch beim nächsten kleinen Windhauch wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Letztlich gibt es nur einen, der dem Menschen bei seiner Entfaltung im Weg steht, er sich selbst.“
„Der Mensch ist, als das am meisten mit Moral befrachtete, auch das eingeschränkteste Tier“, meinte Jesus, „Es ist schwer zu ertragen. Und die Zerstörung, die er an sich selbst verübt, setzt er nach außen fort. Dieser kleine, schrittweise Tod wird auch um ihn herum praktiziert, an den Mitmenschen, oder allgemeiner, an den Mitgeschöpfen, an der Erde. Er will die Zerstörung, weil er nicht erträgt, dass andere etwas können, was er sich selbst versagt, einfach nur zu leben.“
„Das Kind in der Krippe zeigt es uns“, meinte ich, „Und alle anderen Kinder, die geboren werden. Vielleicht sollten wir mehr auf sie hören und ihrem Beispiel folgen.“
„Vielleicht sollten wir all die verstaubte Sexualmoral über Bord werfen und unbefangen und vorurteilsfrei von vorne beginnen, so dass wir die Lebendigkeit wiederfinden“, schlug Jesus vor.
„Meinst Du, dass sich das so einfach aus den Köpfen tilgen lässt, wo es so lange drinnen war?“, fragte ich.
„Nicht nur aus den Köpfen, auch aus den Herzen, denn die meisten folgen diesen Regeln ja nicht, weil sie sie verstanden haben oder für richtig erachten, sondern weil sie sie unhinterfragt übernommen haben und nun durchsetzen wollen, egal auf welche oder wessen Kosten.“
Lebendigkeit in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer Unverdorbenheit, sein lassen und dieser folgen, abseits der Regeln, die uns unhinterfragt und unreflektiert eingebläut werden, und die wir ebenso übernehmen. Weil es so ist, oder weil es immer schon so war, oder weil es sich eben so gehört. Das ist höchstens viel Lärm um Nichts, aber keine Begründung, schon gar keine gute. Es muss hingenommen werden, auch, weil es damit nicht diskutierbar ist. Es soll auch nicht diskutiert werden. Es scheint wie ein Naturgesetz zu sein, dem wir uns zu beugen haben, aber da ist das Kind in der Krippe, das uns sagt, dass ein Neuanfang, abseits aller Lebensfeindlichkeit möglich ist, dass die Lebendigkeit wiedergefunden werden kann und wir den Sittenwächtern und Moralaposteln nicht hilflos ausgeliefert sind. Zurück ins Leben zu finden, das ist vielleicht der Sinn von Weihnachten, den es jeden Tag neu zu entdecken gilt, neu zu beleben und anzunehmen. Und plötzlich ist das Leben bunt und warm und einladend, da wo zuvor alles nur grau und kalt und abweisend war. Das Leben in der Fülle, von der kleinsten Amöbe bis zum Blauwal, vom kleinsten Grashalm bis zum Mammutbaum wird es angenommen. Nur der Mensch braucht einen Anstoß, vielleicht eine Erlaubnis. Und das Kind in der Krippe kann dieser Anstoß sein. Auch eine Erlaubnis.
Und als wir dann mit den Kleinen das erste Mal vor die Türe gingen, sahen wie sie die Welt entdeckten, da wussten wir, in jedem neuen Leben gibt es diesen Anstoß, erfüllt sich die Botschaft von Weihnachten.
Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten



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Liebe ist oft nur Verlangen und keine liebende Hingabe. Deshalb wird aus Liebe getötet, betrogen, gelogen, für Götter gemordet und verfolgt. Alles im Namen der Liebe.
Leider so wahr – dabei kann die Liebe wahre Wunder vollbringen, wenn sie sein kann, was sie ist.