„Hallo!“, melde ich mich am Telefon, als es mir endlich gelingt, sie zu erreichen, doch weiter komme ich nicht, denn sofort werde unterbrochen.
„Stell Dir vor, was mir heute passiert ist“, doch ich komme gar nicht dazu mir irgendetwas Schreckliches vorzustellen, denn sie fährt auch schon fort.
„Ich habe mir, als ich die Strümpfe richtete, den Nagel abgebrochen, und die Strümpfe auch gleich zerrissen“, erklärt sie, und der Ernst in ihrer Stimme verrät mir, sie hält es wirklich für was Schreckliches. „Also ich ins nächste Geschäft frische Strümpfe gekauft und das Notfallset für Fingernägelkatastrophen aktiviert, aber das ist natürlich nur eine halbe Lösung. Das ist, wie wenn man bei einem Auto einen Reifen tauscht, das kann man auch nicht lassen.“
„Das ist fast gleich lebensgefährlich“, kann ich mich nun doch nicht enthalten einzuwerfen.
„Du hast es erkannt“, stimmt sie mir zu. An manche Menschen ist wirklich jeder Sarkasmus verschwendet. „Und deshalb habe ich sofort meine Maniküre angerufen, ob sie mich heute irgendwie einschieben kann. Konnte sie, und da war ich dann in der Mittagspause.“
„Und jetzt ist die Welt wieder in Ordnung“, bringe ich meine Hoffnung zum Ausdruck, um gleich mein Anliegen nachzuschieben, weil ich Angst habe sonst überhaupt nicht mehr zu Wort zu kommen, „Also kommst Du heute zur Demo für Meinungs- und Redefreiheit.“
„Wann soll denn das sein?“, kommt es unterdrückt von der anderen Seite.
„Um fünf, und das quasi um die Ecke von Dir“, erkläre ich, und schöpfe wieder Hoffnung, um noch hinzuzufügen, „Du hast gesagt, es würde Dich interessieren und es wäre ein wichtiges Anliegen.“
„Das kann schon sein, dass ich das gesagt habe“, erklärt sie gedehnt, „Aber heute geht ganz bestimmt nicht.“
„Wieso nicht?“, wage ich es einzuwerfen, „Du hörst um halb fünf auf zu arbeiten, da ist das doch optimal.“
„Du sagst das so einfach dahin“, sagt sie, und in ihrer Stimme liegt fast so etwas wie Empörung, „Wenn Du wüsstest was ich alles zu tun habe!“
„Nun, die Kinder sind aus dem Haus. Du hast keine Haustiere zu versorgen, und Dein Mann, der wird sich doch wohl das eine Mal selbst versorgen können. Oder noch besser, er kommt auch“, erkläre ich.
„Darum geht es gar nicht“, gibt sie zurück, „Ich spreche von den wirklich wichtigen Dingen. Nach der Arbeit muss ich mir meine Spritze holen, Du weißt schon, zur Hautverjüngung. Dann habe ich einen Termin bei der Kosmetikerin. Schließlich will man ja nicht so alt aussehen wie man ist. Und dann muss ich noch sehr intensiv darüber nachdenken welche Tasche ich nehme, Du weißt schon, zu dem Empfang.“
„Du hast doch eh 150 Taschen, nimmst halt irgendeine“, wage ich einen Einwand, „Und Deine Spritze und die Kosmetikerin, das geht doch auch noch nächste Woche. Immerhin geht es um Meinungs- und Redefreiheit.“
„Da sieht man, dass Du keine Ahnung vom Leben hast“, schleudert sie mir entgegen, „Ich muss nachdenken, wann ich welche Tasche getragen habe. Stell Dir die Nachrede vor, wenn ich eine zwei Mal nehme. Und nächste Woche, das geht gar nicht. Ich muss da wirklich konsequent jede Woche hin, sonst zeigt es keine Wirkung. Es wird sicher wieder eine Demo geben.“
„Wenn es keine Meinungs- und Redefreiheit mehr gibt, dann auch keine Demos mehr“, entgegne ich, doch schon ein wenig irritiert.
„Betrifft das auch mein Recht zur Kosmetikerin zu gehen und mich aufspritzen zu lassen und Handtaschen zu kaufen?“, fragt sie nach.
„Nein, konsumieren wirst Du immer dürfen“, erkläre ich matt.
„Dann ist ja alles gut. Wer braucht schon Meinungs- und Redefreiheit?“, sagt sie lachend, „Aber wenn sie mir mal die wirklichen wichtigen Dinge verbieten wollen, dann bin ich bei einer Demo sofort dabei. Denn es gibt schließlich nichts Wichtigeres als gutes Aussehen und die passenden Accessoires zur Garderobe. Findest Du nicht auch? Natürlich findest Du das. Du bist schließlich auch eine Frau. Jede Frau versteht das, also jede, die noch ein wenig weibliches Feingefühl besitzt.“
Wortlos lege ich auf. Einerseits muss ich verkraften, dass ich über keinerlei weibliches Feingefühl verfüge, und andererseits, dass es Leben gibt, in denen die größten Sorgen abgebrochene Fingernägel und die nächste Spritzenkur umfassen. Eigentlich ein glückliches Leben, und Grundrechte erkämpfen, das werden die anderen schon machen. Denn hätte es diese Kämpferinnen nicht gegeben, dürfte auch diese Dame nicht arbeiten gehen und frei über ihr Geld verfügen, aber das ist alles selbstverständlich.
