Am späten Nachmittag hatte die Fähre abgelegt. Die See war ruhig und der Himmel wolkenlos. Meine Gefühle waren eher gemischt, als ich Barnabas einpacken musste und der Spedition übergab. Allzu oft hatte ich schon darauf vergessen, dass er ja letztendlich doch kein Mensch war, dass er weder Hunger noch Durst, weder Kälte noch Hitze erleiden würde. Ruhig und entspannt lag er in seiner Kiste. Dennoch ertappte ich mich immer wieder bei dem Gedanken wie es ihm wohl ergehen würde, dort unten im Frachtraum in seiner Kiste. Unruhig lief ich am Schiff auf und ab, gedanklich abwesend und durcheinander. Es war mir, als wäre ich halbiert worden, ohne Barnabas. Während dieser Zeit, die wir nun schon zusammen wohnten, waren wir noch nie so lange getrennt gewesen.
„Was für ein herrlicher Sonnenuntergang“, stellte Sarah Wegener fest. Es dauerte einige Momente bis die Stimme so weit zu mir durchdrang, dass ich sie wahrnahm und noch eine weitere Zeitspanne bis ich den Sinn der Worte erfasste. Langsam kam ich zu mir und stellte fest, dass ich am obersten Deck saß und direkt in die untergehende Sonne sah, den Wind ignorierend. So versunken war ich in mir selbst gewesen. Der Wind, den ich plötzlich wieder wahrnahm, ließ mich frösteln. Ich entdeckte das Rot des Himmels und erfuhr Geduld und Zuwendung aus der Stimme, dem Blick der Frau, die neben mir saß. Still saß sie da und sah mich an. Nichts weiter. Sie versuchte mich nicht zu einer Reaktion zu zwingen und wandte sich auch nicht ab. Ihr Gesicht wirkte ernst und heiter zugleich. Es war mir, als würde sie wissen, dass ich meine Anwesenheit erst wieder erarbeiten musste.
„Ja, wunderschön“, sagte ich schließlich, und selbst meine Stimme klang mir fremd und von sehr weit her. Ich wusste nicht mehr wie das ging, sich zu unterhalten, mit fremden Menschen. Bei denen wusste man nie wie sie reagierten. Sie können nett und freundlich und zuvorkommend sein, aber sie müssen es nicht. Es konnte auch ein Wechsel geschehen zwischen freundlich und unfreundlich, völlig unvorhersehbar.
„Wir genießen diese Momente der Stille sehr, in dem wir uns einlassen ausschließlich auf das, was sich uns darbietet“, fuhr die Dame neben mir fort.
„Sarah, sei doch nicht so vorschnell. Vielleicht will ja die junge Dame bewusst allein sein“, mischte sich nun der Mann ein, der neben jener Dame saß, die mich angesprochen hatte und den ich bis jetzt nicht bemerkt hatte. Für mich klang es wie eine Zurückweisung, die er der Frau an seiner Seite erteilte, doch das Lächeln, das dem widersprach, irritierte mich.
„Vielleicht hast Du recht, Jonas“, erwiderte sie ungerührt, und damit wandte sie sich an mich, „Ich hoffe, Sie verzeihen mir meine Direktheit, aber Sie wirkten so verloren, dass ich dachte, ich könnte Sie wieder zurückholen.“
„Woher wussten Sie das?“, fragte ich mich, ohne mich weiters um Konventionen zu bekümmern, so erstaunt war ich über ihre präzise Benennung meiner Situation.
„Ich wusste es nicht, aber ich spürte es“, gab sie unumwunden zu, „Aber natürlich respektiere ich auch, wenn Sie für sich bleiben möchten.“
„Das heißt, ich könnte jetzt sagen, dass ich lieber nicht reden würde, und Sie würden das akzeptieren ohne böse zu sein?“, versuchte ich zu präzisieren.
„Genau das“, bestätigte sie lächelnd, „Meinen Sie nicht, dass es sehr viel einfacher wäre, wenn jeder sagen könnte was er möchte ohne erst darüber nachdenken zu müssen was der andere möchte um die eigenen Bedürfnisse dann aus Höflichkeit zurückzustellen.“
„Es wäre sehr viel einfacher, davon bin ich überzeugt“, bestätigte ich.
Bei Barnabas konnte ich das, dachte ich für mich, doch der konnte schließlich auch nicht widersprechen. Und die Fähre fuhr weiter, während ich die Einladung annahm gemeinsam zu Abend zu essen. In allem gab mir Barnabas recht, hinterfragte nicht und bestärkte nur, doch war das wirklich so erstrebenswert? Ich schob den Gedanken bei Seite. Ich wollte ihn nicht.
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