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Life is too short for boring stories

Das nackte Entsetzen erfasste Joël, als sie an diesem Morgen nach Hause kam und ihre Zahnbürste aus der Tasche nehmen wollte, die sie, wie stets, wenn sie die Nacht außer Haus verbrachte, eingesteckt hatte. Sie war aber nicht da. Das ließ nur einen Schluss zu, sie hatte ihre Zahnbürste in einem fremden Badezimmer vergessen. Anderen wäre das wahrscheinlich nicht so wichtig erschienen. Es kommt nun mal vor, dass man was vergisst, aber Joël war eben nicht wie die Anderen.

Joël war nämlich sehr aufmerksam. Es war durchaus von Nutzen, so konnte sie immer wieder aufs Neue feststellen, nicht nur auf Worte, sondern auch auf Gesten und Zeichen zu achten. Je länger sie dies praktizierte, desto selbstverständlicher wurde es für sie. Es ging ihr in Fleisch und Blut über, so sehr, dass sie eines Tages davon überzeugt war, dass ihr nichts entgehen  und nichts mehr passieren könne, was auch nur im Entferntesten zu einem Missverständnis führen würde. Ihre Interpretationen waren immer richtig und konsistent. Sie war so sehr von ihren Künsten auch zwischen den Zeilen lesen zu können überzeugt, dass sie sogar noch dort zwischen den Zeilen las, wo es gar keine Zeilen gab. Die malte sie sich dann selber dazu. Aber sie konnte noch mehr. Nicht nur, dass sie die Zeichen anderer lesen konnte, sie setzte ihrerseits das weite Feld der Zeichen und Symbole dafür ein, anderen garantiert unmissverständliche Botschaften zu hinterlassen. Mit eben jenen, über viele Jahre trainierten, Fähigkeiten ausgerüstet, lernte sie Michael kennen, der sich allgemein nur Mike nennen ließ.

 

Vom ersten Moment an war Joël von Mike fasziniert. Nicht nur, dass er zu den wenigen Männern gehörte, die über intellektuelle Fähigkeiten verfügten, die die durchschnittlichen weit überragten, er war auch noch belesen, neugierig und offen. Er behielt all dies nicht für sich, sondern sprach darüber, und auch über anderes. Darüber hinaus war er aber auch ein Mann der Tat, und er sah noch verdammt gut aus. Dass das ein Kriterium für ihre Vorliebe für ihn war, das hätte sie jedoch nie zugegeben. Hätte jemand zu ihr gesagt, „Der sieht aber verdammt gut aus“, dann wäre es ihr tatsächlich gelungen, Staunen in ihren Blick zu legen und völlig glaubwürdig zu entgegen. „Tatsächlich? Das ist mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen“, denn Äußerlichkeiten spielten keine Rolle, durften es nicht. Die inneren Werte waren es, die zählten. Auch wenn sie nicht mit diesen inneren Werten eine intensive Beziehung einging. Darüber legte sie sich keine Rechenschaft ab. Das war auch gar nicht notwendig. Worüber sich Joël und Mike jedoch Rechenschaft ablegten, und das gleich zu Beginn, waren die Eckpunkte ihrer umfassenden Freundschaft. Dazu gehörte, dass ihr Miteinander offen, tolerant und erwachsen sein sollte, ohne weiteres emotionales Engagement, denn das – so hatten sie beide über die Jahre festgestellt – war es, was eine Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau immer so mühsam und kompliziert werden ließ, mit dem Rattenschwanz an Folgen, die das nach sich ziehen würde. Eifersucht, Besitzdenken, und all die anderen Unsinnigkeiten, die eines aufgeklärten Menschen unwürdig waren. So vorbereitet gestaltete sich ihre Freundschaft wirklich zu ihrer beiderlei Zufriedenheit. Und dann war ihr so etwas passiert.

 

Zitternd vor Wut über sich selbst und ihre Unaufmerksamkeit, stand Joël vor dem Spiegel ihres Badezimmers und konnte sich nicht genug darin ergehen, sich Vorwürfe zu machen. Wenn es irgendetwas anderes gewesen wäre, irgendetwas, aber die Zahnbürste, die nichts weniger besagte, als „Ich werde bei Dir einziehen“. Ein Gerät, das man tagtäglich zwei Mal benutzt, kann gar nicht anders gedeutet werden. Mike musste sie für eine doppelzüngige, scheinheilige Schlange halten. Nie wieder würde er mit ihr reden, ja sie nicht einmal ansehen. Dabei musste sie sich eingestehen, und nur sich, dass es schlimm für sie wäre, schlimmer als vieles oder vielleicht sogar fast alles andere, was ihr passieren konnte. Es war so selbstverständlich, dass er in ihrem Leben war, dass sie gar nicht mehr daran dachte, dass es anders sein könnte. Was sollte sie nur tun? Wie könnte sie das je wiedergutmachen? Wie ihm das erklären? Leichenblass und kraftlos ließ sie sich auf den Badezimmerboden gleiten, während ihr heiße Tränen des Vermissens, das sie jetzt schon verspürte, und der Wut, ob ihrer Dummheit, über die Wangen liefen. Alles war verloren.

 

„Joël“, hörte sie plötzlich und völlig unvermutet eine vertraute Stimme neben ihrem Ohr, „Was ist denn los? Ist was passiert?“

„Mike, was machst Du denn da?“, fragte sie verdattert, während sie verzweifelt versuchte die Tränen wegzuwischen.

„Ich dachte mir, weil ich gerade in der Gegend war, ich bringe Dir Deine Zahnbürste vorbei. Du hast sie vergessen“, meinte er, und drückte ihr den verräterischen Gegenstand in die Hand.

„Das ist es, was Du darüber denkst?“, fragte sie argwöhnisch nach.

„Bei irgendeinem anderen Mädchen hätte ich vielleicht gedacht, dass sie mir damit sagen wollte, dass sie bei mir einziehen will oder so irgendetwas, oder dass sie sich sonst wie binden möchte“, entgegnete er.

„Und bei mir?“, hakte sie nach.

„Bei Dir doch nicht“, sagte er lachend. Und damit hatte er natürlich recht. Vergessene Zahnbürsten sind zwar ein Zeichen, aber nicht unbedingt in jedem Kontext dasselbe. In ihrem war es eben nichts weiter als eine vergessene Zahnbürste.

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