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Life is too short for boring stories

 

Jeden Tag stand sie am Fenster und sah hinaus. Dabei ließ sie es sich angelegen sein hinter dem Vorhang zu stehen, so dass sie den Innenhof überblicken konnte, selbst aber nicht gesehen wurde. Und die Leute beobachteten. Sie wusste es. Sie erzählten es. Im Supermarkt an der Kassa und in der Trafik und im Wirtshaus. Alles erzählten sie. Sie sollten nicht über sie reden. Wahrscheinlich taten sie es trotzdem. Sie war eben anders. Aber wie sollte man nicht anders sein, wenn einen das Leben so geführt hatte, wie es sie nun mal führte. Zum Schluss hierher. Zum Schluss. Nicht, dass sie alt war. Ihr Leben schien dennoch abgeschlossen. Seit drei Jahren wohnte sie hier. Alles andere blieb draußen. Ab und zu ging sie einkaufen. In den Supermarkt. Ab und zu ging sie in die Trafik. Ab und zu ging sie ins Wirtshaus. Sie war immer alleine. Es war eben so. Auch wenn sie es sich ganz anders vorgestellt hatte. Aber was scherte sich das Leben um ihre Vorstellungen?

 

Jeden Tag stand sie am Fenster und sah hinaus. Auch wenn das Fenster offen war stand sie hinter dem Vorhang. Mitten in der Trostlosigkeit des Grau im Hinterhof, der als Parkplatz genutzt wurde, war ein kleines rotes Auto aufgetaucht, eines Tages. Vielleicht war es auch schon länger dagewesen, aber sie hatte es eben an jenem Tag bemerkt. Ein Mann stieg aus. In einem langen dunklen Mantel. Einen Hut am Kopf. Es war Winter. Und alles war noch grauer. Das rote Auto blitzte hervor. Es war nicht zu übersehen. Er war nicht zu übersehen. Sie sah, dass er zur Stiege und hinauf ging. Nahm sie an. Er kam einfach in ihr Blickfeld und entfernte sich auch wieder. Jeden Tag zur gleichen Zeit, wie sie herausfand. Lange genug hatte sie beobachtet um den genauen Ablauf herauszufinden. Sie konnte es sich leisten, denn als Übersetzerin arbeitete sie von zu Hause. Sie hatte es so gewollt. Mit Kindern, hatte sie gedacht, wäre es vorteilhaft. Dann wäre die Betreuung kein Problem. Das wäre ihr Leben gewesen. Ein Mann. Zwei Kinder. Ein Häuschen im Grünen. Eine Arbeit von zu Hause. Die Arbeit von zu Hause hatte sie noch immer. Den Mann hatte sie gehabt. Er war gegangen bevor Kinder da waren. Bevor das Haus da war. Jetzt war sie in der Wohnung. Geblieben war nur das. Und die Arbeit von zu Hause aus.

 

Jeden Tag stand sie am Fenster und sah hinaus. Um acht Uhr morgens, Montags bis Freitags, wenn er das Haus verließ und ins Auto einstieg. Um fünf Uhr nachmittags, Montags bis Donnerstags, wenn er das Auto verließ und zum Haus ging. Am Freitag kam er immer schon gegen zwei. Er schleppte einen Einkaufskorb. Samstags und Sonntags hatte sie frei. Sie stand nicht am Fenster, oder nur sporadisch. Es gab keine Regel für diese Tage. Vielleicht hätte sie irgendwann eine gefunden, denn er war ein verlässlicher, korrekter Mensch. So viel hatte sie über ihn herausgefunden, doch sie wollte nicht. Sie wollte auch einmal frei haben vom Aus-dem-Fenster-sehen und auf ihn warten.

 

Jeden Tag stand sie am Fenster und sah hinaus. Es war Montag acht Uhr morgens. Doch diesmal erkannte sie ihn nicht gleich. Erst als er beim Auto stand wusste sie, dass er es war. Er trug keinen Mantel und keinen Hut. Es war nicht mehr Winter. Zum ersten Mal sah er sich um. Er sah sogar zu ihr hinauf. Sie sah sein Gesicht. Da ging sie weg vom Fenster.

Aus: Lebensbilder

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