Wann hast Du Dir das letzte Mal den Wind durchs Haar und um die Nase wehen lassen?
Wann bist Du das letzte Mal barfuß über einen weichen Waldboden gegangen?
Wann hast Du das letzte Mal den knorrigen Stamm einer alten Eiche berührt, den Blick in ihre Krone wandern und Dich von ihrer majestätischen Gestalt zum Staunen bringen lassen?
Wann hast Du das letzte Mal dem Zwitschern der Vögel gelauscht?
Wann hast Du das letzte Mal unter einer Buche gelegen und die Sonnenstrahlen, die durch die Krone dringen. am Boden tanzen gesehen?
Wann hast Du das letzte Mal das emsige Treiben der Ameisen in einer Kolonie beobachtet?
Wann hast Du das letzte Mal Bienen von Blüte zu Blüte fliegen sehen?
Wann hast Du das letzte Mal durch eine nasse Wiese getanzt, barfuß, mit ausgestreckten Armen und offenen Händen?
Wann hast Du das letzte Mal den Regen auf Deiner Haut gespürt?
Wann hast Du das letzte Mal einfach hinausgesehen und nichts getan, als das Leben zu spüren?
Wann hast Du das letzte Mal spontan einen Aufbruch gewagt, indem Du einfach die Türe aufmachtest und hinausgegangen bist?
Wann hast Du das letzte Mal eine*n Fremde*n angelächelt, weil es einfach guttat?
Wann hast Du das letzte Mal die Sterne in einer klaren Nacht gesehen?
Wann hast Du das letzte Mal den glühend roten Himmel bei Sonnenaufgang gesehen?
Wann hast Du das letzte Mal Schneeflocken mit Deiner Zunge gefangen?
Wann hast Du das letzte Mal die belebende Kraft eines Schluckes Wasser erfahren?
Wann hast Du das letzte Mal geschaukelt?
Wann hast Du Dich das letzte Mal eingebunden gefühlt in die Natur?
Wann warst Du das letzte Mal glücklich?
Vielleicht war es gestern oder sogar heute, nicht alles auf einmal, aber zumindest eines davon, oder irgendetwas anderes, was einfach geschieht, ohne Nutzen oder Zweck, zumindest was als Nutzen oder Zweck definiert wird, wie damit Geld zu verdienen oder den Geldverdien-Vorgang zu unterstützen oder sich vom Geld verdienen zu erholen. Aber auch Dinge, die dem Prestige zuträglich sind, wie ein teueres Auto zu fahren oder ein großes Haus zu haben, am besten mit Swimmingpool. Dann hat man für solche Nutz- und Zwecklosigkeiten keine Zeit. Man muss einkaufen oder den nächsten veritablen Urlaub buchen. Man muss sich sehen lassen und im angesagten Lokal einen Cocktail schlürfen. Man muss die Kinder chauffieren, von einem Termin zum nächsten. Man muss sich mit Kultur auseinandersetzen und sich darüber unterhalten können. Man muss ins Fitnessstudio gehen und zur Kosmetikerin, denn der Wettbewerb um die Plätze an der Spitze ist hart und man kommt dort nur hin, wenn man gut aussieht. Man muss sich die Verspannungen wegmassieren lassen und auf Kur fahren, weil das Leben einen so schrecklich fordert. Man muss glänzen und optimistisch sein. Man muss die Ellenbogen einsetzen und darf nicht zimperlich sein. Man muss sich amüsieren und möglichst viel Sex haben.
Und dann kann man nachts nicht schlafen, weil man den ganzen Tag tut und trotzdem das Gefühl hat, das Leben zu versäumen. Aber wie soll man es finden, wenn man den Konnex zwischen all dem Müssen schon längst verloren hat? Die Waldluft ist doch ganz was anderes als die der Klimaanlagen in den Einkaufs- und Bürotempeln, in denen man sich Tag für Tag aufhält. Man kann nachts nicht schlafen, weil man deutlich spürt, dass irgendetwas im Leben nicht stimmt, aber man kann nicht ausmachen, was das sein könnte, weil man doch alles richtig macht, also so, wie es einem erzählt wird. Man hat so viele, viel zu viele Dinge, doch das Glücklich-sein bleibt aus. Man kann sich mit Urlauben und Prestigeobjekten brüsten, aber es bleibt ein schaler Geschmack. Vielleicht hängt das Glück doch nicht wirklich am Konsum? Es ist ein flüchtiger Gedanke, bevor man doch noch in einen unruhigen Schlaf verfällt, der einen in den Morgenstunden heimholt. Wenn man aufgestanden ist, denkt man nicht mehr daran, denn da geht das Müssen wieder los.
Ich frage mich, wird den Menschen diese Diskrepanz tatsächlich nicht bewusst, ist es wirklich so schwer, auf den naheliegendsten Gedanken zu kommen, nämlich, dass man Glück nicht kaufen und nicht inszenieren kann, dass das Leben an sich lebenswert ist, gerade wo es keinen anderen Nutzen oder Zweck erfüllt, als sich selbst zu sein? Aber letztlich ist es mir egal, denn Du bist da und ich. Deshalb nehme ich Dich an der Hand und wir gehen durch den Wald, atmen die klare Luft, hören die Vögel fröhlich zwitschern, spüren die Blätter auf dem Weg und vielleicht gehen wir auch noch schaukeln.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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