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Life is too short for boring stories

10. Zulassen

 

Rebekka hatte Kuchen mitgebracht an diesem Tag. Er roch frisch und süß. Freudestrahlend schnitt sie ihn auf und gab jedem ein Stück.

„Den habe ich selbst gebacken!“, erklärte sie, um sich dann niederzusetzen, während ihr Blick erwartungsvoll durch die Runde ging.

„Ausgezeichnet ist er geworden“, meinte Lilith, nachdem sie gekostet hatte. Ruben und Samuel stimmten zu. Doch anstatt sich darüber zu freuen und ihr eigenes Stück zu essen, wirkte Rebekka eher verstimmt.

„Das ist alles?“, fragte sie und ihre Erwartungshaltung hatte sich sogar noch gesteigert.

„Ja, das ist alles“, bestätigte Ruben, der sein Stück als erster fertig gegessen hatte, „Ist das nicht genug?“

„Ja, das ist nicht genug!“, entfuhr es Rebekka unwirsch.

„Aber mehr als ausgezeichnet geht doch nicht“, beharrte Ruben.

„Eben, das ist es, worum es geht“, meinte Rebekka, „Irgendetwas muss es doch geben, das daran nicht passt. Irgendetwas, was ihr mir sagt, und was ich dann beim nächsten Mal besser machen kann.“

„Warum willst Du unbedingt etwas verbessern, was nicht mehr verbessert werden muss?“, wunderte sich nun Lilith.

„Weil es immer und überall was zu verbessern gibt!“, meinte Rebekka.

„Es geht also gar nicht um den Kuchen“, meldete sich nun Samuel erstmals zu Wort, nachdem er dem Hin und Her der Worte bisher stumm gefolgt war, „Es geht schon wieder um dieses, man darf nie mit sich zufrieden sein. Ich glaube ja, dass Du da was gründlich missverstanden hast.“

„Und was soll ich da missverstanden haben, Herr Schlaumeier?“, fragte Rebekka herausfordernd.

„Dass Du nicht dazu aufgerufen bist Deinen Unzufriedenheitsstatus auf jede Kleinigkeit auszudehnen“, erklärte Samuel, und in seiner Stimme klang Wohlwollen und Geduld mit, „Es heißt immer, man darf nicht zufrieden sein, denn wer zufrieden ist, ist träge und macht nicht weiter. Das ist auch gut und richtig so. Wenn man was abgeschlossen hat, dann soll man sich eben nicht zurücklehnen und sich damit zufrieden geben, sondern Ausschau halten nach Neuem.“

„Oder nach einem Fehler, den man gemacht hat“, fuhr Rebekka dazwischen, „Oder eben was man an dem, was man gemacht hat, besser machen kann, denn irgendetwas geht immer.“

„Und dann hast Du den Einpeitscher hinter Dir, ewig und immer und in jedem Moment“, gab Samuel zu bedenken, „Der Einpeitscher, der Dich vorantreibt, der Dich belauert. Anfangs nur am Tage, doch dann in der Nacht. Er verfolgt Dich und verlangt Dir immer mehr und mehr ab. Er lässt Deine Gedanken nicht zur Ruhe kommen, weder bei Tag noch bei Nacht. Zunächst. Und dann lässt er Dich nicht zur Ruhe kommen, weder bei Tag noch bei Nacht. Du musst immer tun, immer weiter tun, und immer weiter nach Fehlern suchen.“

„Und wenn ich die dann alle ausgemerzt habe, dann bin ich perfekt“, erklärte Rebekka, „Was also bitte soll schlecht daran sein?“

„Dass Du nach Deiner Theorie nie perfekt sein kannst, dass Du immer nach neuen Fehlern suchen musst, sonst bist Du ja zufrieden“, hielt Samuel entgegen, „Es ist grundsätzlich richtig. Nur gehört dieses Konzept um eine wichtige Komponente ergänzt.“

„Und was soll das bitte sein?“, fragte Rebekka dazwischen.

„Um die Komponente der Zufriedenheit“, antwortete Samuel lapidar.

„Und das soll kein Widerspruch sein?“, meinte Rebekka verdutzt.

„Nein, denn es ist ein Unterschied ob ich das Konzept der Unzufriedenheit in jeder Lebenslage und bei jeder Gelegenheit zelebriere, oder ob ich es einfach für mich nutze um mich weiterzuentwickeln“, erklärte Samuel, „Wenn ich mich einpeitschen lasse, dann bin ich ein Sklave, aber wenn ich mich anspornen lasse, auch einmal innezuhalten, zu sehen, was das Leben für mich an Herausforderungen bereithält, dann bin ich bereit diese anzunehmen. Und wenn ich dann eine dieser Herausforderungen bewältigt habe, dann kann ich mich auch mal zurücklehnen und sagen, das habe ich gut gemacht. Das passt so wie es ist. Im Augenblick zu bleiben und sich darin wohlfühlen. Neue Kraft tanken und dann weitergehen. Das eine schließt das andere nicht aus. So wie bei Deinem Kuchen. Der ist wirklich perfekt, so wie er ist. Jetzt kannst Du natürlich verzweifelt danach suchen was Du trotzdem noch besser machen könntest, oder Du könntest einfach da sitzen und Deinen Kuchen genießen. Für diesen Moment. Zufrieden, dass er Dir schmeckt, zufrieden, dass wir hier zusammen sitzen und ihn miteinander essen. Und dann, gestärkt und gesättigt, dann mach Dich auf und begib Dich wieder in die Hände Deiner Unzufriedenheit. Dann ist es in Ordnung.“

 

Rebekka rang sichtlich mit sich. Es ist schwer anzuerkennen, dass man sich vielleicht geirrt hat, und sei es nur ein wenig. Ist denn nicht auch das eine Unzulänglichkeit, zuzugeben, dass man sich geirrt oder einfach falsch verstanden hat? Es ist nicht leicht zu sich zu stehen. Aber zu wem sollte man sonst stehen, wenn nicht zu sich selbst?

 

„Und wie ist es mit mir selbst?“, fragte Rebekka deshalb, „Mit meinen Fehlern und Schwächen? Es heißt ja immer, wir alle haben welche, aber soll ich die dann einfach hinnehmen und so tun als wäre nichts?“

„Es kommt darauf an“, meinte Lilith, „Wie sehr belasten Dich diese Fehler und Schwächen? Wie sehr fühlst Du Dich von ihnen eingeschränkt? Und vor allem, meinst Du, dass es Fehler und Schwächen sind, weil es wirklich Deine Meinung ist oder weil Du die Meinung anderer übernimmst, und sei es, dass es allgemeiner Konsens ist, das zu meinen? Wenn es Schwächen sind, die Dich begrenzen und dazu führen, dass Du Dich selbst unwohl fühlst, dann arbeite daran. Aber manche Dinge, die als Schwächen gesehen werden, machen gerade Dich in Deiner Individualität aus. Wandle Deine Schwächen in Stärken, und so lange sie Dir nichts anhaben, dann versöhne Dich mit ihnen. Versöhne Dich mit Dir.“

„Mit mir versöhnen …“, wiederholte Rebekka gedankenverloren.

„Mit Dir versöhnen, Dich annehmen und zufrieden sein, um Raum zu haben Dich zu entwickeln, denn das eine schließt das andere nicht aus“, fügte Ruben hinzu.

„Einen Kompromiss zu finden ständig vorwärts zu eilen und stehen zu bleiben“, fügte Rebekka hinzu.

„Nicht einen Kompromiss, sondern die rechte Alternative für die jeweilige Situation. Ein Kompromiss ist immer etwas, was nur Verlierer zurücklässt. Zeit des Innehaltens. Zeit des Voranschreitens“, entgegnete Samuel.

„So wie in diesem Moment, den Kuchen zu genießen und den Tee und unser Miteinander. Augenblicke des Bleibens. Augenblicke einer stillen Zufriedenheit“, erklärte Ruben versonnen. Und sein Blick fiel auf Lilith. Wann war er eigentlich das letzte Mal so zufrieden gewesen?

 

An diesem Abend fand sich die Kuchenform in der Auslage, als Symbol für gemeinsames Genießen und Zufriedenheit in diesem. Denn der Kuchen war rasch aufgegessen.

Hier gehts zu Teil 11

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