Lea Lenz stand vor dem Gefängnis, in dem Lew Ponomarjow untergebracht war und versuchte ihr aufkommendes Unwohlsein niederzukämpfen. Einmal die Woche hatte sie ihre Mutter im Gefängnis besucht, bis sie sich nach zwei Jahren aufgehängt hatte. Dabei war ihre Mutter bis zum Schluss überzeugt davon, dass sie ihn Notwehr gehandelt hatte, als sie ihren Mann, Leas Vater, mit dem Spaten erschlagen hatte. Das Gericht jedoch hatte es anders gesehen: „Lebenslänglich für vorsätzlichen Mord aus niedrigen Motiven“ hatte das Urteil gelautet. Lea hatte es gesehen. Sie hatte unmittelbar hinter ihrer Mutter gestanden, als sie den Spaten genommen und den Schädel ihres Vaters eingeschlagen hatte. Doch wer hätte das nicht getan, nachdem er ihr vorenthielt, was ihr rechtmäßig zustand? Danach war Leas Großmutter zu ihr ins Haus gezogen, die am selben Tag, an dem Lea ihren 18. Geburtstag feierte, von einem plötzlichen Herzinfarkt ereilt, dahinschied. Seitdem war Lea frei. Nur einen einzigen Wermutstropfen konnte Lea ausmachen, der Umfang ihres Erbes, das weit nicht so hoch ausgefallen war, wie sie vermutet hatte. Bis jetzt hatte sie gut davon leben können, aber es ging langsam zur Neige. Deshalb war es gut, dass sie sich mit Lew gut gestellt hatte, von Anfang an, ja seine Freundschaft, seine Liebe erringen konnte. Doch nun atmete sie nochmals tief durch und betrat die Justizanstalt. Schließlich hatte sie einen Auftrag zu erfüllen.
Lew Ponomarjow, der Russe, wie er allgemein im Ort genannt wurde, hatte bei den Vernehmungen kein einziges Wort gesagt. Ganz gleich welche Taktik Hauptkommissar Krystian Kowalczyk und seine Kollegin Helga Unterhuber auch angewandt hatten, nichts hatte gefruchtet. Lew sprach einfach nicht. Mit niemandem, außer mit Lea Lenz, mit der er gut befreundet war. Helga Unterhuber vermutete sogar eine Liebesgeschichte, eine sanfte, feine Liebesgeschichte, die die beiden verband. Das wollten sich die Vertreter*innen der Exekutive zu Nutze machen und hatten deshalb Lea gebeten, mit Lew zu sprechen. Das war der Grund, warum sie nun hier war. Nach einer genauen Durchsuchung ihrer Person, wurde Lea eingelassen und in einem Besucherzimmer deponiert. Wenige Minuten später saß Lew ihr gegenüber. Er wirkte eingefallen und verhärmt, so als hätte er nicht erst zwei Tage, sondern bereits Monate hier verbringen müssen. Sacht nahm Lea seine Hände in die ihren, ihm Trost zu spenden. Ein paar Minuten saßen sie einfach da, froh miteinander sein zu können, auch wenn es unter so bedrückenden Umständen geschah. „Ich weiß, es geht Dir sehr schlecht hier“, brach Lea endlich das Schweigen, „Ich möchte mithelfen, dass Du so schnell wie möglich hier herauskommst.“ „Und wie soll das gehen?“, entgegnete Lew und seine Stimme war voller Resignation, „Es spricht doch alles gegen mich. Außer das Motiv. Was hätte ich für ein Motiv eine Frau zu ermorden, die mir so viel Gutes getan hatte? Sie hat mich aufgenommen wie einen Sohn und dafür soll ich sie erschlagen?“ „Du hast es also nicht gewusst?“, warf Lea ruhig ein. „Was habe ich nicht gewusst?“, fragte Lew irritiert. „Dass Du ein Motiv hast und sogar ein sehr gutes, zumindest würden es viele Menschen so sehen.“ „Und das wäre?“, zeigte sich Lew erstaunt. „Dass Du der Haupterbe der Gräfin bist“, erklärte ihm Lea ruhig. Lew verschlug es augenscheinlich die Sprache. Als er sich wieder gefasst hatte, sagte er tonlos: „Jetzt ist alles aus. Wer wird mir schon glauben, dass ich es nicht gewusst habe?“ „Deshalb ist es wichtig, dass Du alles erzählst, alles, so wie es war“, meinte Lea, „Magst Du es wenigstens mir erzählen? Ich liebe Dich und möchte mein Leben mit Dir verbringen, aber in Freiheit. Und ich weiß, dass Du es nicht warst.“ „Also gut“, willigte Lew endlich ein, „Seit Jahren verbringe ich zwei Abende die Woche bei Sofia Andrejewna. Also verbrachte, muss ich sagen. Es ist beinahe schon eine Tradition gewesen. Angefangen hat es damit, dass sie meinte, ich esse zu wenig, was wohl auch stimmte, weil ich sparte. Mein Traum ist eine eigene Gärtnerei, aber der Traum ist wohl ausgeträumt, wenn ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen muss. Jedenfalls war ich auch am Abend des 27. Mai bei ihr. Ihr Dienstmädchen Inna trug das Essen auf. Nachdem sie uns mit Kaffee und Knabbereien versorgt hatte, zog sie sich zurück. Das war so gegen 21.00 Uhr. Dann haben wir noch eine Weile geplaudert und dann, es muss wohl so gegen 22.00 Uhr gewesen sein, verließ ich das Haus, um ins Bett zu gehen. Sofia Andrejewna blieb noch im Wohnzimmer sitzen. Ich wollte meinen Spaten nehmen, den ich neben der Türe abgestellt hatte, aber er war nicht mehr da. Es hat mich zwar gewundert, aber ich war so müde, denn ich war seit fünf Uhr früh auf den Beinen, dass ich dachte, ich hätte ihn wohl woanders hingestellt. Darüber würde ich mir am nächsten Tag Gedanken machen. Deshalb bin ich schnurstracks zu Bett gegangen. Das ist alles. Aber wer soll mir das glauben?“
„Klingt das für Sie glaubwürdig, Frau Kollegin“, wandte sich Krystian Kowalczyk, seines Zeichens Hauptkommissar, vom Bildschirm ab, auf dem sie das Gespräch verfolgt hatten, und seiner Kollegin Helga Unterhuber zu.
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Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg


Alles ganz normal! Geschichten aus dem Leben
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