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Life is too short for boring stories

„Ich will bei Dir bleiben, Dir bleiben.“, sagtest Du, als Du erwachtest und sich nichts geändert hatte, am Fortgang nicht und auch nicht am Bleiben. „Dann bleib bei mir, bleib mir.“, antwortete ich, als Du mir wiedergegeben warst, aus den Armen des Schlafs, in diesen Moment. „Ich kann bleiben, so lange Du mir erzählst.“, sagtest Du, und so begann ich zu erzählen.

Ich war in die Dämmerung erwacht, wie immer. Nein, nur fast so wie immer, denn wenn es immer gewesen wäre, hätte ich mich an meinen Steg gesetzt, doch in dieser einen Dämmerung lag etwas, das mich fortführte, in ein Hinaus verführte. Fraglos folgte ich, zunächst dem bekannten Pfad, der dann in einen anderen mündete, einen weniger vertrauten, der wiederum zu einem anderen führte, und immer so fort. Ich weiß nicht wie lange ich so fortgegangen war und der Weg, den ich ging, war mir schon längst völlig unbekannt, doch aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es der richtige Weg war. Geradeso, als hätte es keinen anderen Weg gegeben, den ich hätte gehen können. Immer weiter ging ich fort, ohne die kleinste Unsicherheit, während der Mond über das Firmament schritt, seinen altbewährten Lauf folgend. Ich erreichte eine Brücke, die das Feld, über das ich gegangen war mit dem jenseits des Flusses liegenden Ort, verband. Sie schien die einzige Verbindung zwischen dem Jenseits und dem Diesseits des Flusses zu sein. Es war eine grobe, steinerne Brücke, festgefügt wohl, aber dennoch in größter Eile erbaut. Ich war mir sicher, noch nie an diesem Ort, bei dieser Brücke gewesen zu sein, und dennoch erkannte ich sie wieder, so wie ich meinen Steg, meine Wiese, meine Weide wiedererkennen würde, wenn ich zurückkehrte, so sicher, als hätte ich mich ein ganzes Leben damit befassen können mir diese Brücke vertraut werden zu lassen. Aber das konnte ich nicht, konnte einfach nicht sein. Spielte mir meine Fantasie einen Streich, wie schon des öfteren? Oder war das eine Erinnerung, die so verschüttet war, dass ich sie mir selbst nicht eingestehen konnte? Ich ging ein paar Schritte die Brücke hinauf, die Hand am steinernen Geländer . … fünf, sechs sieben, acht, neun, zehn – zählte ich automatisch. Genau zehn Steine, bis zu jenem Tor, das die Brücke in der Mitte teilte und das im Notfall geschlossen werden konnte, so dass der Ort unzugänglich war. Doch vor welcher Gefahr mussten sich die Bewohner des Dorfes dort in der Mitte schützen? Ich ging die Brücke wieder zurück, wagte nicht sie zu überqueren, wagte nicht den Ort zu betreten. Als ich wieder zum Anfang der Brücke kam, sah ich dort ein Mädchen sitzen. Ganz klein hatte sie sich gemacht, die Beine angezogen und die Arme um ihre Knie geschlungen, so klein, als wollte sie sich unsichtbar machen, und beinahe wäre es ihr auch gelungen, in ihrem Kleid, das so grau war wie der Stein, an den sie sich presste. Ich schätzte, dass sie ungefähr zehn Jahre alt sein musste, nur ihre Augen wirkten welk und müde. Warum saß sie da? Warum war sie nicht im Dorf auf der anderen Seite der Brücke, in Sicherheit? Warum saß sie hier in der Dunkelheit, und lag nicht in ihrem Bett? Ich kniete mich vor ihr nieder, entschlang ihre Arme und fasste ihre Hand. Ich wollte sie in das Dorf hineinbringen. Da erst bemerkte ich, dass das Tor verschlossen war. So nahm ich sie mit mir mit, den Weg zurück. Als wir schon so weit gegangen waren, dass die Brücke und das Tor gerade noch schemenhaft zu erkennen waren, drehte ich mich nochmals um, und gewahrte eine dunkle große Gestalt, die sich der Brücke rasch und zielsicher näherte. Sie war in einem langen, weiten Umhang gehüllt, so dass es unmöglich war zu entscheiden ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Doch ich wusste es, plötzlich war es wieder da, all das Erinnern und das Grauen in dem Erinnern.

Das Mädchen, das da verängstigt meine Hand hielt, das war ich selbst, in einem, irgendeinem Damals, und die dunkle Gestalt, die sich so rasch und ungestüm der Brücke näherte, das war der Mann, an den ich verkauft worden war, in jenem Damals, in dem ich mich fügte, in dem ich mich nicht zu wehren wusste. Es war zum Besten des Dorfes, hieß es. Ein kleines Mädchen zu opfern, das war doch ein viel geringerer Verlust als niedergebrannte Felder und ausgeraubte Häuser. So ward es beschlossen. Ein minimales Opfer zum Wohl der Gemeinschaft. Was zählt denn schon ein kleines Menschenleben, wenn dadurch Hunderte gerettet werden können? So waren alle einverstanden gewesen. Es ward entschieden worden, über meinen Kopf hinweg, ohne meine Zustimmung. „Es ist ein großes Opfer, das Du bringst, und wir werden Deiner immer gedenken.“, hatten sie versucht, mich zu ermutigen. „Du verlässt uns mit dem erhebenden Gefühl Dich für viele Menschen und deren Glück und Fortkommen eingesetzt zu haben.“, hatten sie fortgesprochen. Doch ich hatte mich nicht erhaben gefühlt, bloß klein und verloren. So hatten sie mich an das Ende der Brücke gesetzt. „Was, wenn der Unhold dennoch nicht abließe unser Dorf zu tyrannisieren? Dann wäre ihr Opfer völlig sinnlos gewesen.“, hatten sich vereinzelte kleine Stimmen gemeldet, doch sie waren nicht gehört worden. Vielleicht hatten sie nicht gehört werden wollen. Und doch hatten sie sagen können, sie hätten es versucht, zur Beruhigung ihres eigenen Gewissens. Nicht laut, nicht stark und schon gar nicht nachhaltig, aber doch immerhin, etwas. „Das war mehr als die Allermeisten getan hatten.“, würden sie später ins Feld geführt haben können. Und ich hatte in jenem Damals am Ende der Brücke gesessen, wo ich hingesetzt worden, und das Tor hatten sie fest verriegelt. Warum war ich nicht weggelaufen, fragte ich das Mädchen an meiner Hand, einfach weggelaufen? Es war nicht möglich gewesen, doch jetzt, jetzt war es möglich. Schon wandten wir uns von der Brücke ab, um unseren Weg fortzusetzen, als ich erkannte, dass es mir wohl jetzt möglich war davonzulaufen, mehr als ihn gewähren zu lassen.

Ich ließ das Mädchen stehen, das ich einst war, dieses kleine, verängstigte, paralysierte Mädchen, und ging zurück zu dem Unhold. Mit der Rechten griff ich mir die schmale Sichel des Mondes und stach sie ihm mitten ins Herz, und mit einem Mal zerplatzte der Unhold, zerstob in die Nacht und wurde aufgesogen. Ich hatte sie besiegt, meine Angst, meine Paralyse, und als ich mich umwandte, da sah ich wie dieses kleine, verschüchterte Mädchen, das Ich aus diesem Damals, sich aufrichtete, wuchs, um sich mit mir zu vereinen.

Da war ein Teil von mir, den ich bereits verloren glaubte, den ich nun nicht nur wiederfand, sondern auch noch rettete. Ich war herausgetreten aus der Opferrolle, in die der Handelnden, die ihr Leben lenkt, und nicht länger lenken läßt.

Ich war ganz und heil geworden, in dieser Nacht.

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