Yvonne war sich im Klaren darüber, dass dieses Unternehmen Konsequenzen haben würde. Die Obrigkeit würde es nicht so einfach hinnehmen, dass die Welt plötzlich bunt und einladend war, gestaltet nach den individuellen Vorstellungen der Menschen.
„Es kommt einer Rückeroberung des öffentlichen Raums gleich“, sagte sie unvermittelt, so dass Mark aufsah und sich umblickte. Immer mehr Menschen hatten sich angeschlossen und mitgemalt. Kinder tummelten sich dazwischen. Sie hörten Lachen und Plaudern, entspannt und ziellos. Deshalb noch lange nicht sinnlos.
„Stell Dir vor, die Menschen würden wieder einen Grund haben, sich aus ihrer biedermeierlichen Abgeschiedenheit in ihren vier Wänden zu verabschieden, einfach um einander zu begegnen“, führte Mark ihre Gedanken weiter, „Bis jetzt ist es so, dass sie immer von einem Ort zum anderen hetzen, erledigen, was sie zu erledigen haben, um sich dann zu Hause zu verkriechen. Sie gehen in Einkaufszentren, schlendern von Auslage zu Auslage, aber sie sehen einander nicht. Und deshalb können sie eigentlich nicht anders, als zu konsumieren.“
„Genau“, gab ihm Yvonne recht, „Aber was wäre, wenn die Menschen, die sich noch nie begegnet sind, wie sie es hier tun, plötzlich draufkommen, dass keine soziale Plattform auch nur annähernd an das heranreicht, was sie hier gerade erleben. Es malt jemand etwas und inspiriert jemand anderen zu einer eigenen Zeichnung. Es schreibt jemand eine Botschaft und andere lesen es, woraufhin sie darüber reden. Sie lächeln einander an, weil sie sich austauschen und auf neue Gedanken bringen. Hellhörig geworden, beginnen sie die/den Andere*n zu sehen, bewusst wahrzunehmen.“
„Und wenn sie morgen hier entlangschlendern, dann treffen sie jemanden, den sie heute erst kennengelernt haben. Sie bleiben stehen und reden miteinander. Andere kommen dazu. Man hat es nicht mehr eilig“, fuhr Mark mit dieser Vorstellung fort, „Und weil sich die Menschen immer öfter begegnen, entstehen wieder kleine Läden, alternativ, ausgefallen, lebendig, mit diesen bunten Markisen. Sie kaufen, was sie brauchen, bei diesen kleinen Händlern und brauchen weder Einkaufszentren noch große Ketten, in denen man immer nur das Gleiche bekommt. Das Individuelle zählt, weil man es darf. Dazwischen sind kleine Straßencafés und Sitzgelegenheiten. Treppen werden frequentiert. Da unterhält sich dann der Banker mit dem Punk oder die Ärztin mit der Pensionistin, ohne Berührungsängste oder Argwohn, weil sie lernen, einander als Menschen wahrzunehmen, ganz egal, was sie anhaben oder arbeiten. Der öffentliche Raum egalisiert und führt die Menschen wieder zusammen.“
„Und vielleicht bringt einmal jemand eine Gitarre mit und es wird gesungen, miteinander“, ergänzte nun Yvonne, „Dazwischen wird getanzt. Kinder toben und spielen. Vielleicht trägt jemand ein Gedicht vor, einfach so, weil es ihm gerade in den Sinn kommt. Es findet Aufmerksamkeit. Man fühlt sich beschenkt, bereichert.“
„Man kann einander helfen“, sagte Mark, „Man sieht die alte Frau, die sich mit ihrem Einkauf abmüht und nimmt ihr die Last ab. Man sieht den kleinen Jungen, der tiefbetrübt ist, weil er eine schlechte Note bekommen hat und muntert ihn auch. Dort, wo man zuvor gesagt hätte, ‚das geht mich doch nichts an‘ oder ‚ist ja nicht mein Problem‘, da wird man offen für die Nöte und Bedürfnisse der anderen. Man ist füreinander da.“ In diesem Moment fielen die ersten Regentropfen vom Himmel. Innerhalb weniger Minuten entwickelte sich daraus ein wahrer Platzregen, so dass alle Schutz suchten.
„Wie schade“, meinte Mark, der beobachtete, wie sich die Kunstwerke langsam auflösten und vom Wasser weggespült wurden.
„Vielleicht wäre es schön gewesen, wenn es ein bisschen länger vorgehalten hätte“, gab ihm Yvonne recht, „Aber andererseits können wir so morgen wiederkommen und was Neues entstehen lassen, neue Bilder, neue Begegnungen und neue Perspektiven.“
Nachdem der Regen nachgelassen hatte, kam der Polizist in Begleitung von vier Kolleg*innen wieder. Mark und Yvonne beobachteten, wie sie über den Platz gingen, alles genau inspizierten, woraufhin die neu Hinzugekommenen die Köpfe schüttelten.
„Ich schwöre Euch, es war da“, hob der erste Polizist an.
„Das kann schon sein“, erwiderte eine Kollegin, „Aber das waren ganz normale Straßenkreiden. Der Regen hat alles weggewaschen und entspricht damit wohl hoffentlich wieder Deinem Ordnungssinn.“
„Darum geht es gar nicht“, meinte Ersterer, „Wenn das jedoch Schule macht und immer mehr Menschen meinen, sie könnten so ein Chaos veranstalten. Da wäre es mit Ordnung und Sicherheit vorbei.“
„Was wäre das für eine Ordnung und Sicherheit, die sich von ein paar Straßenbildern zerstören ließe?“, fragte die Polizistin nach.
„Das ist erst der Anfang. Man muss solche anarchistischen Ausschreitungen im Keim ersticken“, erklärte der Exekutivbeamte ernst. Daraufhin schüttelten die Kolleg*innen die Köpfe und verließen den Ort der angeblich anarchistischen Graswurzelbewegung. Vielleicht hatte er ja gar nicht so Unrecht. Es muss schon schlimm sein zu erleben, dass die Menschen Freude und Spaß am Leben haben, wenn sie mehr sind, als Arbeit und Konsum, wenn sie leben.
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ein schöner Traum, den Menschen wie dieser Polizist, die es in allen Ebenen der Gesellschaft und der Politik immer wieder gibt, leider nicht wirklich zulassen kann…
Wir hatten schon einmal eine Bewegung, bunt und egalisierend, frei und ohne die meisten der Vorurteile unserer Gesellschaft: Die Hippie-Bewegung der 60er.
Menschen, rational und egoistisch, regelbesessen und sich als über ihnen stehend, haben alles pervertiert und zugrunde gerichtet. Manche haben sich etwas bewahrt und hin und wieder begegnet man einem, einer Alt-68er*in und kann sich selber einmal prüfen, ob die oft aufkommende Ablehnung nicht einfach nur Neid oder Mißgunst ist.