Es war ein grauer Herbsttag, als meine Hündin mich auf ihn aufmerksam machte. Er saß im Gras und schrie missvergnügt. Zumindest hörte es sich für mich missvergnügt an. Meine Hündin stand daneben, neugierig, aber auch ein wenig ängstlich. Sie wollte näher hin, traute sich aber nicht so recht. Deshalb beließ sie es dabei, den Hals so weit wie möglich nach vorne zu strecken und eingehend zu schnüffeln, um im Notfall immer noch die Möglichkeit zu haben, den schnellen Rückzug antreten zu können. Ich konnte es verstehen, denn vor diesem langen, gebogenen Schnabel hatte ich auch größten Respekt. Deshalb ging ich neben meiner Hündin in die Knie und wartete ab. Ganz unbekannt war er mir nicht, denn ich hatte ihn schon des Öfteren bei unserem Kompost gesehen. Offenbar fand er da immer wieder Leckereien. Er hüpfte unerschrocken auf mich zu und gleich auf mein Knie, so dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. „Für einen Vogel bist Du ganz schön schwer“, dachte ich noch, als ich endlich den Grund dafür erkannte, dass er seine Scheu abgelegt hatte und zu mir gekommen war.
Sein Flügel hing schlaff herab. Ich musste zum Tierarzt, sofort. Die Hunde waren durchaus einverstanden, nachdem es sie nicht betraf. Um mich auch ja nicht auf die Idee zu bringen, eine*n von ihnen mitzunehmen, rollten sie sich in ihrem Körbchen ein und versuchten so unsichtbar wie möglich zu sein. Der Vogel jedoch hüpfte von meinem Knie auf meine Hand, die ich ihm anbot und von dort auf meine Schulter. Wer bis jetzt nur gemutmaßt hatte, ich sei eine Hexe, hätte darin eine Bestätigung gefunden. Der pechschwarze Vogel auf meiner Schulter konnte nichts anderes bedeuten. Er blieb, während ich ging, mit dem Auto fuhr, die Ordination betrat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Erst, als wir den Untersuchungsraum betreten hatten, hüpfte er über meinen Arm hinunter auf den Untersuchungstisch. Der Arzt der Tierheilkunde besah ihn sich kurz, um dann festzustellen, dass der Flügel gebrochen war. Geduldig ließ ihn sich der Gefiederte schienen. Ein paar Wochen würde es dauern, wurde ich aufgeklärt, dann könnte ich den Vogel wieder guten Gewissens in die Freiheit entlassen. Des weiteren erfuhr ich, dass mein schwarzgefiederter Freund wohl ein Kolkrabe war, noch ein junger, höchstens zwei Jahre alt. In diesem Alter pflegen Kolkraben in Teenagergangs herumzuziehen, bis sie sich mit ungefähr drei bis vier Jahren eine Partnerin suchten und sesshaft wurden. Kolkraben gehörten, wie aus dem Namen unschwer zu erkennen war, zu der Familie der Rabenvögel und waren mit Abstand die größten Vertreter ihrer Art in Europa. Mit einer Körperlänge von bis zu 67 cm und einer Flügelspannweite bis zu 130 cm ist er doch sehr beeindruckend. Vor allem, wenn man ihn auf der Schulter sitzen hat.
Die nächsten Wochen vergingen in angenehmster Harmonie. Nach anfänglichem Misstrauen, gewöhnten sich unsere vierbeinigen, befellten Mitbewohner an den neuen Gast. Ab und an ließ sich der große Vogel, nachdem er nicht fliegen konnte, von den Hunden spazieren führen. Er setzte sich zu diesem Behufe auf den Rücken und wartete bis man sich zum Aufstehen bequemte. Auch auf unseren Spaziergängen begleitete er uns, wobei er bei diesen den Platz auf meiner Schulter bevorzugte. Endlich konnte der Verband abgenommen werden. Sofort breitete er die Flügel aus und tatsächlich, alles war wieder so, wie es sein sollte. Kaum hatten wir das Haus verlassen, erhob er sich in die Lüfte. Ich sah noch, wie er einige Flugrollen machte, dann war er am Horizont verschwunden. Doch ein wenig betrübt fuhr ich nach Hause.
Ja, natürlich war ich mir darüber im Klaren, dass es sich um ein Wildtier handelte und dieses gehörte in die Freiheit. Das war alles absehbar und gut so. Eine Weile noch, dann würde er sich eine weibliche Gefährtin finden und mit ihr eine Familie gründen. So ist das im Leben. Man kann sich also mein Erstaunen vorstellen, als er am Abend desselben Tages ans Glas der Terrassentüre klopfte und Einlass begehrte. Wie er es bereits während der letzten Wochen gewohnt war, erhielt er seine Futterration mit den Hunden. Friedlich schliefen sie ein. Er flog weg und kam wieder, wie er Lust und Laune hatte. Das war in Ordnung so. Man gewöhnt sich. Und der Name, den wir ihm gegeben hatten, war Onto. Seltsamer Name? Kann sein, aber er hat natürlich eine tiefere Bedeutung, von der ich Euch das nächste Mal erzählen werde.
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Eine wunderschöne Story 😊
Danke Dir. Das freut mich!