Niemals war ich anders als ich bin.
Niemals habe ich mich verbiegen lassen.
Niemals hat mich jemand daran hindern können meine Flügel auszubreiten und weg zu fliegen, wenn ich das wollte.
Niemals konnte mir jemand die Flügel stutzen.
Ja, manchmal bleibe ich, für eine kleine Weile, bis es mir zu eng wird, bis es mir ist, als müsste ich ersticken, als würde ich keine Luft mehr bekommen. Dann musst Du mich fliegen lassen, wenn Du nicht willst, dass ich zugrunde gehe.
Niemals habe ich es zugelassen, dass die Fenster geschlossen werden.
Niemals habe ich mich ergeben.
Niemals war ich anders als ich bin.
Niemals?
Nein, nicht niemals. Ein einziges Mal ist es Dir gelungen mich dazu zu verführen mir selbst untreu zu werden, und das auch nur, weil Du meine momentane Schwäche ausnütztest, in der Erfahrung der größten Kälte und der tiefsten Einsamkeit. Und doch sind es nichts weiter als billige Ausreden angesichts meines Versagens. Es geschah an einem jener Dezembertage, da die Nächte so unendlich lange erscheinen, kalte, eisige Nächte, und die Tage nur sehr zaghaft aufhellen. Da saß ich bisweilen auf einem Ast und sah beim Fenster hinein, hinter dem so viel Wärme und Licht wohnte. „Einmal nur im Warmen ausschlafen“, dachte ich, und so als ob ein Ruf ergangen wäre, so verließt Du das warme Zimmer, tratst nahe heran an den Ast, auf dem ich saß, mich zu locken mit süßen Speisen und Feuer im Kamin.
„Komm doch, kleines Wildvögelein, lass mich Dich laben und in einem warmen Heim willkommen heißen, nur diese eine Nacht“, flüstertest Du mir zu.
„Oh, das klingt verlockend, sehr verlockend, doch Du willst mich in einen Käfig sperren und behalten, und das überlebe ich nicht“, entsagte ich dem verlockenden Angebot.
„Nein, ich weiß wer und was Du bist. Ich will Dir nur Gutes, denn ich liebe Dich von ganzem Herzen. Während des Frühlings, des Sommers und des Herbstes hast Du mein Leben und mich mit Deinem Gesang bereichert, doch nun bist Du verstummt, gerade jetzt, wo Dein Gesang so viel Wärme und Licht in diese kalten, grauen Wintertage bringen würde, gerade jetzt bist Du verstummt. Lass mich Dich wärmen und laben, damit Du wieder singen kannst“, verhießt Du mir.
„Es ist nicht die Kälte und nicht das Grau, die mich verstummen ließen, sondern diese tiefe Traurigkeit und unbestimmte Sehnsucht“, entgegnete ich.
„Auch diese werde ich nach Kräften zu stillen versuchen“, versprachst Du mir, und ich wagte es mich Dir anzuvertrauen, in dieser Nacht. Und es war wohl schon so, dass mir die Wärme und das Licht, Deine Zuwendung und Deine Aufmerksamkeit wohl taten, und so blieb ich, diese eine Nacht. Du hieltest Wort und ließt mich am nächsten Morgen ziehen, ließt es mir frei in der nächsten Nacht wieder zu kommen. Langsam fasste ich Vertrauen zu Dir, denn ich war satt und zufrieden. Nichts drängte mich mehr oder zog mich fort, bis der Frühling kam. An einem Abend verkündete ich Dir, dass ich am nächsten Morgen weiterziehen würde, doch als ich an diesem erwachte, fand ich mich eingesperrt.
„Du darfst mich nicht verlassen“, sagtest Du.
„Ich verlasse Dich nicht“, entgegnete ich.
„Aber Du wolltest fort“, meintest Du.
„Ich muss fort, sonst gehe ich ein“, antwortete ich schlicht.
Doch Du hörtest nicht. Du machtest mich kaputt, denn Du wolltest mich besitzen. Doch man kann nur tote Dinge besitzen. Oder was man getötet hat.
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