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Life is too short for boring stories

Es gibt viele Menschen, die erzählen gerne von sich selbst. So wird zumindest behauptet. Dabei gibt es eine zumindest weitgehende Übereinstimmung darüber, was dieses “über sich erzählen” bedeutet, nämlich eine Aneinanderreihung von Geschichten, die in einem individuellen Leben geschahen. Anekdotenhaft oder pointiert erzählt, je nach Temperament, kann es auch recht amüsant sein. Und es wird behauptet, dass man den Menschen, der solche Begebenheiten aus seinem Leben erzählt, besser versteht. Unbewusst wird dabei die soziodemographische Herkunft, der Umgang, der Familienstand, der Werdegang deutlich. All das führt zu einem Verständnis und rechtfertigt den Ausdruck “von sich selbst erzählen”. Man kann es auch Autobiographisches nennen. Dabei ist die Vorsilbe Auto mehr als zweifelhaft. Geschichten selbst aus der eigenen Vergangenheit, selbst erzählt sind – euphemistisch ausgedrückt – verklärt. Es kann gar nicht anders sein, so sehr man sich auch bemüht sachlich zu bleiben.

Bezogen auf die ersten Lebensjahre ist diese These leicht nachzuvollziehen und es wird mir auch kaum jemand widersprechen. Aus dieser Zeit kann man der eigenen Erinnerung nicht trauen, denn man selbst entsinnt sich dieser Begebenheiten nicht, weil sie einem im Gedächtnis geblieben wären, sondern weil sie einem erzählt werden, und zwar immer und immer wieder, so oft, bis man meint, es handle sich tatsächlich um die Geschichte, die man selbst erlebt hat. Eine spannende Leistung unseres Gehirns, was nichts desto trotz nichts daran ändert, dass es eben nicht die eigene Geschichte ist. Was es noch zusätzlich verschärft sind die Menschen, die sie einem erzählen, weil ihr Blick auf jenen, über den berichtet wird, emotional verzerrt ist. Dabei handelt es sich nämlich in erster Linie um nahe Angehörige, wahlweise enge Freunde. Da fallen dann so Formulierungen wie “Mein Gott warst Du süß”. Das spricht in jedem Fall für eine rationale Erinnerung. Durch diese Ausschmückungen wird es für einen selbst auch schwer sich auf die Fakten zu konzentrieren, wenn sie umrahmt sind, wie von einem Heiligenschein, von diesem legendären “süß”, diesem milden, sanften Schimmer, der letztlich nichts anderes sagt, als, damals warst Du süß, und sieh Dich jetzt an. So weit denkt man nicht, gefangen im lieblichen Süßigkeitsstadium.

Spätestens an dieser Stelle steht für mich fest, das ist definitiv gelogen, denn wenn ich etwas von mir sicher weiß, ich bin nicht süß. Gut, als Erwachsene sind die wenigsten süß, wenn sie es nicht gerade darauf anlegen ihren Kindlichkeitsstatus für immer beizubehalten, aber ich war es auch noch nie, weil ich es auch nie sein wollte. Vielmehr war es mein Bestreben wild und frech und aufmüpfig und herausfordernd sein. Auch wenn ich es damals nicht so genannt hätte. Ohne es in Worte zu fassen, war ich es einfach. Nicht einmal um zu rebellieren, sondern um die Lebensfreude verkraften zu können, überbordend und leidenschaftlich. Ich wollte springen und pfeifen, schaukeln und rutschen, auf Bäume klettern und durch Bäche waten. All das, was süße, kleine Mädchen in hübschen Kleidchen nicht machen wollen. So wird es ihnen gesagt. Ob es tatsächlich so ist, dass sie es nicht wollen oder einfach nur dem Bild der Mutter vom herzigen Mädchen nachzueifern suchen, weiß ich nicht, weil ich die ehemals süßen, kleinen Mädchen nie danach gefragt habe, vor allem auch deshalb, weil sie es womöglich selbst nicht wirklich wissen. Ich jedenfalls war dadurch Anlass des ständigen Kummers meiner Mutter. Ich wünschte, es wäre anders gewesen, aber es war mir schlichtweg unmöglich, mich so weit selbst zu verleugnen, bloß um meine Mutter glücklich zu machen. Jetzt hatte sie sich so darüber gefreut, dass sie ein Mädchen hatte, und dann diese Enttäuschung. Geträumt hatte sie davon, das erzählte sie mir immer und immer wieder, wie sie ihr Mädchen in Spitzen und Rüschen packen würde, wie sie Ballett tanze und sich grazil bewege. Also das genaue Gegenteil von dem, was ich war. Von Anfang an war ich eine einzige große Enttäuschung, die Enttäuschung ihres Lebens. Wobei sie es nicht unterließ mir zu unterstellen, ich machte es ihr zu Fleiß. Dabei war und ist das ganz und gar nicht der Fall. Ich war eben, wie ich war, und darin vieles, nur nicht süß. So weit dazu, dass ich von mir eigentlich nichts erzählen will, zumindest nicht in diesem Sinne. Es mag die These untermauert haben, dass Erzählungen über sich selbst aus den ersten Lebensjahren immer verzerrt sind, in welche Richtung auch immer. Die Verzerrung bleibt aber nicht auf diese Zeit beschränkt, auch wenn sie in späteren Jahren nicht mehr so direkt auszumachen ist. Dennoch wage ich zu behaupten, was wir von unserer Vergangenheit erzählen, ist immer verfälscht.

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