Lea sitzt auf der Couch und blättert lustlos in einer Zeitschrift. Normalerweise ist sie eifrige Leserin eben jener Zeitschrift, doch ihre Gedanken wollen einfach nicht bei der Sache bleiben. Immer wieder schweifen sie zu dem gutaussehenden Kerl, der noch immer über seinen Laptop gebeugt ist um … Ja, was macht er da eigentlich? Er hat es ihr erzählt, daran besteht kein Zweifel, doch sie hat ihm nicht zugehört. Nein, das ist nicht ganz richtig, zugehört hat sie ihm schon, aber ihr Gehirn scheint sich im Ausnahmezustand zu befinden, so dass es nur das versteht, was im Moment relevant ist. Und das ist, seit sie ihm das erste Mal begegnete.
“Martin”, spricht sie denjenigen an, der mit dem Ihm gemeint ist, und der nun ihr ganzes Denken zu beherrschen scheint, “Meinst Du nicht auch, dass es ein Wink des Schicksals ist, dass wir uns gerade an jenem Tag in jenem Kaffeehaus begegnet sind?”
“Wie wahr”, entgegnet der Angesprochene zustimmend, während er sich in seinem Sessel zurücklehnt und Lea ansieht, “Der Moment, das Kaffeehaus, der richtige Hormonspiegel und das passende Beuteschema. Das ist wirklich bemerkenswert.”
“Also es war ganz bestimmt die Ausstrahlung. Da spiegelt sich die Persönlichkeit und die Aura macht es”, meint Lea, die letzten beiden Punkte seiner Aufzählung geflissentlich ignorierend, was ihr nicht wirklich schwerfällt, so selektiv wie sich ihre Wahrnehmung gerade benimmt.
“Vor langer Zeit wurde uns ein Schema eingeprägt, nachdem wir unsere Partner wählen. Kommt uns jemand unter, der passt, und Du Dich im richtigen Abschnitt Deines Zyklus befindest, fängt unser größtes Sexualorgan an auf Hochtouren zu arbeiten und die Hormone beginnen zu rauschen”, bestätigt Martin besonnen.
“Ich spreche von Herzensangelegenheiten und Du von Sexualorganen. Die spielten zu dem Zeitpunkt doch noch gar keine Rolle”, erwidert Lea kopfschüttelnd.
“Ich meine auch unser Gehirn”, erklärt Martin seelenruhig, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Auf die Idee war Lea noch nicht gekommen. Sie dachte immer, das Gehirn denkt.
“Aber hast Du es nicht auch gefühlt, die Schmetterlinge im Bauch, und diesen Energieschub, dieses Gefühl, dass die Welt wie neu ist, bunter, heller, wärmer, ach überhaupt schön und dass Du das Leben ganz besonders liebst? Bist Du nicht ergriffen von diesem alles umfassenden Gefühl der Verbundenheit, das einen beseelt, wenn man dem Richtigen begegnet?”, unternimmt Lea einen weiteren Anlauf.
“Ja, ich habe ihn auch erlebt, und erlebe ihn nach wie vor, den erhöhten Dopaminausstoß. Es hat schon was für sich, so ein ganz natürliches Aufputschmittel. Es macht uns euphorisch, führt allerdings auch zum Tunnelblick, so dass sich alles nur mehr um Dich dreht, bei mir und bei Dir um mich. Dazu kommt noch, dass der Serotoninspiegel sinkt, und zwar so sehr, dass wir eigentlich als krank bezeichnet werden müssten. Aber nachdem es nicht lange anhält, verkraften wir das”, meint Martin, “Ist das nicht faszinierend? Drei Sekunden genügen um unseren Körper in einen Ausnahmezustand zu versetzen, uns leistungsfähiger zu machen als wir es je zuvor waren, obwohl wir eigentlich krank sind.”
“So wie Du das sagst, klingt das alles, als wäre die hochhehre Liebe, über die Dichter seit Jahrtausenden schreiben, die der Antrieb dazu war großartige Kunstwerke, Bilder, Skulpturen zu schaffen, nichts weiter als eine Verkettung biologischer Vorgänge, die einfach passieren, ohne dass wir etwas dazu täten oder uns dagegen wehren könnten”, meint Lea, nun doch endlich etwas irritiert, trotz erhöhtem Dopamin- und gesenktem Serotoninspiegel.
“Genauso ist es auch. Ist das nicht großartig wie souverän und sauber unser Körper arbeitet, wie elegant die Abläufe sind, und vor allem so leicht erklärbar”, sagt Martin, freudestrahlend.
“Nochmals, Du reduzierst das Wunder unserer Liebe auf Hormone und Botenstoffe und Neuronen und so einen Schmarrn. Geht es noch profaner?”, fragt Lea, die ihm noch eine letzte Chance geben möchte seine Aussage zu revidieren und den angerichteten Schaden wieder gut zu machen.
“Ja, genau das. Ich wusste ja, dass Du ein kluges Mädchen bist”, erwidert Martin begeistert, offensichtlich nichtsahnend, dass er die zur Versöhnung gereichte Hand gerade ausgeschlagen hatte, “aber reduzieren wäre nun nicht das Wort meiner Wahl gewesen …”
“Jetzt reicht es mir, endgültig!”, ereifert sich Lea, aus Martins Sicht ein gänzlich unverständliches Vorgehen, “Ich kann nicht begreifen, dass Du mir je gefallen konntest.”
Damit springt Lea auf und verlässt wutschnaubend die Wohnung. Dabei wollte Martin doch noch hinzufügen, dass das Warum gerade er und sie sich fanden, noch gänzlich unerforscht wäre, also zumindest ein Rätsel, ein schönes Geheimnis, aber dazu bekommt er nicht die Gelegenheit. Immer ergeht es ihm so. Er weiß beim besten Willen nicht was er falsch macht.
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