„Du bist wunderschön“, sage ich staunend, als Du Dich vor dem Spiegel drehst. Dein blaues Sommerkleid hat keine Träger, und ich stelle fest, dass aus dem kleinen Mädchen, das Du gerade eben noch warst, eine junge Frau geworden ist. Dein Körper ist nun mehr als eine Andeutung, ein Versprechen, er hat sich voll entfaltet, und Dein Lachen durchdringt das Haus.
„Ach was, Du übertreibst“, antwortest Du lachend, und ich merke sehr wohl, dass Du trotzdem Freude daran hast, dass ich das sage, dass ich Dich bestärke, aber vielleicht klingt auch ein klein wenig Wehmut und Erstaunen in meinen Worten mit. Es ist wohl ein Gemisch aus Stolz, Staunen, Zuneigung und Sorge. Ich habe Dich beschützt, als Du es brauchtest. Ich habe Dich begleitet, Jahre hindurch, die wir uns ganz nahe waren, so nahe, wie wohl niemandem sonst in meinem Leben. Ein kleines Mädchen, das die Hand in meine legte und sich mir anvertraute, rückhaltlos, und ich habe diese Hand ergriffen und Dir versprochen Dich zu führen, zu stärken, so gut ich es vermag, an jedem Tag Deines Lebens. Vielleicht änderte sich die Art der Führung, der Stärkung im Laufe der Jahre, doch meine Hand habe ich Dir nie entzogen. Fest und sicher hast Du Dich im Leben verwurzelt.
„Doch, Du bist wunderschön. Nicht nur weil Du jung bist, sondern weil Du strahlst vor Freude und Lebenshunger“, entgegne ich nachdenklich, und auch wenn sie vielleicht für niemanden sonst sichtbar sind, ich sehe sie, die Flügel, die Dir gewachsen sind. Starke, große Schwingen, die Dich hinaustragen in das Leben. Ich bin Dir verbunden und ich weiß, dass es so unendlich viel gibt, was Dir dieses Leben zu bieten hat. Ich werde Dich nicht nur nicht hindern die Flügel auszubreiten und hinauszufliegen, ich werde Dir die Türen weit öffnen, denn Dein Platz ist nicht länger bei mir, sondern dort draußen. Du bist nicht mehr mein kleines Mädchen.
„Ich bin auch so glücklich, und ich werde Dich immer lieb haben“, sagt dieses Mädchen, das nun kein Mädchen mehr ist, und hüpft ungestüm auf mich zu, schlingt die Arme um meinen Hals. Ich erwidere Deine Umarmung, um mich dann aus ihr zu lösen, Dich von mir wegzuschieben.
„Ich werde immer Deine Hand halten, ich werde immer bei Dir sein, egal wie weit Du von mir weg bist, und Du musst weg gehen um zu leben. Es gehört dazu“, höre ich mich sagen, und weiß, dass es richtig ist, auch wenn mein Leben ganz anders aussehen wird, wenn Du nicht da bist. Ich werde mich neu einrichten müssen, mich daran gewöhnen, dass Du nicht mehr meinen Tagesablauf bestimmst und mich nicht mehr ständig präsent brauchst. Es ist meine Entwicklung.
„Ach, jetzt guck doch nicht so traurig. Ich gehe ja nicht weg“, sagst Du, und meinst wohl mich trösten zu müssen, doch es ist nicht Dein Part. Dein Part ist das Vorwärtsstürmen und Erfahrungen sammeln. Meiner ist es zu leben, anders als all die vielen Jahre mit Dir.
„Doch, Du gehst weg, und das ist auch gut so. Du musst Deinen Platz finden. Ich würde mir nur wünschen, dass Du ab und zu zurückkommst, und das Lächeln trägst, das Du jetzt trägst oder wenn es notwendig ist, Dich trösten zu lassen“, antworte ich gedehnt.
„Bist Du traurig?“, fragst Du unvermittelt.
„Natürlich bin ich traurig, aber auch glücklich. Ich bin traurig, weil ich Abschied nehme von meinem kleinen Mädchen, und glücklich, dass diese junge Frau Kraft genug hat ihren Weg zu finden“, entgegne ich wahrheitsgemäß. Und Du breitetest Deine Flügel aus, und nutztest Deine Möglichkeiten.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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