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Life is too short for boring stories

Katie spürte plötzlich wie der Boden unter ihr nachgab. Sie hatte das Moor erreicht. Die Sorge drängte sie. Dennoch musste sie vorsichtig sein, denn wenn sie nur einen falschen Schritt setzte, saß sie in diesem Moor fest und hatte keine Möglichkeit mehr ihn zu befreien. Als Kinder hatten sie ständig hier gespielt, und so wusste sie genau, wie sie gehen musste. Irgendetwas war trotzdem anders als damals. Irgendetwas zog sie hinunter, ließ sie schwerer und schwerer werden. Es war ihr neues, samtenes Kleid. Ohne viel nachzudenken zog sie es aus, und derart, nur mit Unterwäsche bekleidet, ging sie weiter, vorsichtig, aber nicht weniger zielstrebig.

Es waren wohl seine Briefe gewesen, in die sie sich als erstes verliebt hatte. Ja, sie hatte sich in sein Wort verliebt. Doch ließ sich sein Wort wirklich von ihm trennen? War das nicht vielmehr eins, er und sein Wort?

Endlich erreichte sie das Ende des Moors, endlich spürte sie wieder festen Boden unter ihren Füßen. Der Schrei des Käuzchens ließ sie zusammenzucken. Hatte sie da nicht gerade ein paar glühende Augen ausgemacht, die sie belauerten? Was versteckte sich da im Unterholz? Etwas packte sie am Knöchel. Sie strauchelte und fiel. Und nun war es ihr eigener Schrei, der die Nacht durchdrang. Sie riss wild an, um sich aus dem Griff zu befreien, aus dem Griff eines Schlinggewächses. Rasch stand sie auf und ging weiter. Jetzt musste sie noch den Bach überqueren. Sie ließ sich ins Wasser gleiten, ließ das sichere Ufer, ihre perfekte Frisur und ihr makelloses Make-up hinter sich und schwamm zur anderen Seite. Nur noch wenige Meter, dann würde sie ihn erreicht haben. Nicht einen Moment dachte sie daran, dass sie sich irren könnte, denn das durfte, durfte, durfte einfach nicht sein! Nur noch wenige Meter trennten sie voneinander. Wie dicht doch hier die Bäume standen. So viele Jahre waren vergangen, seit sie das letzte Mal hier gewesen war, und des Nachts sah sowieso alles anders aus. Nein, sie durfte sich nicht verirren, durfte sich nicht verlieren, so kurz vor dem Ziel. Da sah sie plötzlich etwas Helles zwischen den Bäumen schimmern, ganz schwach und zart, doch es band ihre Aufmerksamkeit, und gab ihrer Hoffnung eine Richtung. Ihr war bewusst geworden, bewusst gemacht worden,  wie viel sie zu verlieren hatte. Noch nie war es ihr so deutlich vor Augen gestanden.

Endlich hatte sie ihn erreicht, den krummen, alten Baum, den sie als Kinder ihren Marterpfahl genannt hatten, und tatsächlich war ihr Mann daran gefesselt. So weit sie es beurteilen konnte, war er unverletzt, zwar eingeschränkt in seiner Bewegungsfreiheit, aber unverletzt. „George!“, rief sie, lief zu ihm und band ihn los. „George.“, sagte sie nochmals, „Ich bin so froh und dankbar Dich zu sehen. Bist Du in Ordnung? Haben sie Dir was getan?“ Doch statt einer Antwort, nahm er bloß ihr Gesicht in seine Hände und sah sie an, auf eine Weise, als würde er sich zum ersten Mal sehen. Die Art, wie er sie ansah, ließ sie verstummen. „Du bist so wunderschön.“, sagte er schließlich. „So ein Unsinn!“, konterte sie, „Ich bin von oben bis unten verdreckt, mein Make-up ist abgewaschen und meine Frisur ist im Eimer.“ „Das ist es wohl.“, entgegnete er, „Ich habe Dich noch nie so unverfälscht gesehen, als hätte ich bis jetzt nicht Dich gekannt, sondern nur das Bild von Dir, hinter dem Du Dich versteckt hast. Doch vor allem weiß ich jetzt, dass ich Dir doch noch was bedeute.“ „Ich habe es selbst nicht mehr gewusst.“, gab sie widerstrebend zu, „Offenbar hatte es auch etwas Gutes, dass Du entführt wurdest, denn sonst hätten wir das und uns irgendwann ganz vergessen. Trotzdem müssen die, die Dir das angetan haben, zur Rechenschaft gezogen …“ Weiter kam sie nicht, denn er drückte ihr energisch einen Kuss auf die Lippen, um sie derart liebevoll zum Schweigen zu bringen, um seinerseits erklären zu können: „Das wird nicht nötig sein, denn das hier, das war ich ganz allein. Bitte, bitte nicht böse sein!“ Er spürte wie sehr sie sich beherrschen musste nicht wütend zu werden, doch letztendlich sagte sie: „All die Angst, die ich um Dich ausgestanden habe, all die Hindernisse, die ich überwinden musste. Eigentlich müsste ich böse sein, eigentlich und auf den ersten Blick.“ „Und auf den zweiten Blick?“, fragte er gespannt. Sie lächelte ihn an: „Auf den zweiten Blick muss ich Dir dankbar sein, denn ich habe Dich gesucht und uns gefunden.“

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