Man gewöhnt sich. Onto war ein Teil unserer kleinen Familie geworden, denn wir hatten uns vertraut gemacht, einander kennengelernt und angenommen in unserem jeweiligen So-Sein.
„So wie Du bist“, sagte ich zu mir, um sofort zu ergänzen, „und wirst. In dem, in dem Du beständig bist und in dem, in dem Du wächst, so nehme ich Dich an.“
Harmonisch und ungetrübt verlief die Zeit, da die Bedürfnisse in aller Klarheit und Unmissverständlichkeit Ausdruck fanden und entsprechend beantwortet wurden, denn harmonisch bedeutet nicht friktionsfrei, sondern den Umgang miteinander, so er von Respekt und Achtung getragen ist. Zuhören, nicht nur um Gesagtes oder in anderer Form Ausgedrücktes in sich aufzunehmen, sondern in die Bedeutung zu finden. Zuhören als Tat des Verstehens, nicht sich passiv berieseln lassen. Bis der Tag kam, an dem der Verband abgenommen wurde und Onto sich voller Lebensfreude in die Lüfte erhob.
Ich war traurig. Gemeinsam waren wir zum Tierarzt gefahren, alleine fuhr ich nach Hause. Ständig sagte ich mir vor, dass das sein müsse, ein Wildtier in die Freiheit gehöre und der Abschied zum Leben, wie die Begegnung. Es war gut und richtig so, das musste ich mir zugestehen, aber das änderte nichts an meinem Schmerz. Auch die Hunde waren ein wenig irritiert, als ich alleine das Haus betrat. Sie suchten Onto, eine gewisse Weile, dann schienen sie sich damit abzufinden. Er war gekommen und gegangen respektive weggeflogen. Immer ist es irgendwie. Es war mir, als würden sich die Hunde leichter in Gegebenheiten finden, als ich. Vielleicht, weil ich als Mensch immer denke, dass ich irgendetwas machen muss, statt da, wo es richtig ist, einfach zu lassen. Deshalb gingen wir spazieren. Während sich die Hunde des Lebens freuten, sah ich jedem Raben, dem wir auf unserem Weg begegneten, nach. „War das vielleicht Onto gewesen?“, fragte ich mich. Aber keiner zeigte auch nur das geringste Anzeichen uns zu kennen. „Finde Dich damit ab, verdammt nochmal und sei nicht so sentimental“, herrschte ich mich selbst an. Das berühmte „Reiß Dich zusammen“, konnte ich mir auch nicht verkneifen. Und das hatte nur den Effekt, dass ich mich noch mehr in meinem Schmerz einigelte, denn wenn nicht einmal ich selbst auf meine Bedürfnisse einging, mit mir selbst gewalttätig umging, wie konnte ich da Heilung finden. Und als wir auf einer Wiese standen und ein paar Raben beobachteten, die im Rabengang voranschritten, da war ich bereit, hinzusehen. Meinen eigenen Schmerz wahrzunehmen und die Verlassenheit. „Ich fühle mich verlassen und einsam“, fasste ich meine Gefühle zusammen, „Und ich wünsche mir, in meinem Schmerz verstanden und angenommen zu werden. Zumindest von mir selbst.“ Sobald ich es zuließ, war es, als würde sich der Schmerz lösen und es gelang mir, den Raben mit Freude und Dankbarkeit nachzusehen, als sie sich majestätisch in die Lüfte erhoben und wegflogen. „Ich bin sehr glücklich, dass Onto wieder ein ganz normales Rabenleben führen kann“, sagte ich zu mir. So gingen wir weiter und alles war wieder wie immer, nur ein wenig anders, denn eine Begegnung, so sie denn echt ist, in der wir uns zuwenden, öffnen und verletzlich machen, verändert uns. Nie wieder werden wir so sein, wie vor der Begegnung. Und wenn der Abschied kommt, dann können wir durch einen Schmerz gehen und zu einer Dankbarkeit über das Geschehene finden, das in uns bleibt, als die Veränderung, die sie uns brachte. Dann können wir sagen und es meinen, dass es gut ist, wie es ist.
Es dämmerte gerade, da ich in der Küche stand und kochte, als ein Geräusch von der Balkontüre zu mir drang. Die Hunde standen bereits erwartungsvoll davor, als ich kam. „Machst Du bitte endlich die Türe auf“, schienen sie mir sagen zu wollen. Diese Aufforderung befolgte ich natürlich umgehend. Zu meinem Erstaunen und meiner Freude stolzierte ein genesener Onto durch die Türe und stellte sich zur Futterschüssel, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Er blieb, auch über Nacht. In der Früh flog er davon, hinaus in die Welt, die auch seine war, wie die, aller anderer Lebewesen. Er kam wieder, wie es ihm gefiel. Manchmal vergingen Wochen zwischen dem einem und dem nächsten Besuch, manchmal nur ein paar Tage. Jedes Mal wurde er freudig begrüßt. Und es war gut, so wie es war, genauso wie es war.
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