Angestrengt sah ich in die Dunkelheit. Ein seltsames Wesen näherte sich meinem Steg. Vorsichtig trat es auf, als wollte es vermeiden vom Weg abzukommen oder in irgendetwas hineinzutreten, denn es war eine wolkenverhangene Nacht. Dieses Wesen war wohl noch nie dagewesen, so ungelenk und tapsig bewegte es sich durch die Nacht. Es war ein Mann, erkannte ich endlich. Es kam selten vor, dass mich ein Mann auf meinem Steg besuchte, doch dieser war offenbar ein ausgesucht merkwürdiges Exemplar. Er wirkte auch eher, als hätte er sich verirrt, als dass er mich besuchen wollte. Aber er fragte nicht nach dem Weg, als er neben mir stand, sondern schien schon richtig zu sein.
„Guten Abend! Sind Sie Frau Nyx Nachtgedanken?“, fragte er jovial.
„Hallo! Wenn Du so willst, ja“, antwortete ich.
„Gestatten, Dr. Herbert Hagedorn. Ich bin Anwalt und in dieser Funktion ist es mir aufgetragen worden Sie hier, hier, in diesem eher merkwürdig bis dekadent anmutendem Ambiente, aufzusuchen. Die Angelegenheit, dessentwegen ich Sie aufsuche ist eine, die wohl als äußerst ernsthaft zu bezeichnen ist, deshalb möchte Sie bitten sich des förmlichen Sies zu befleißigen“, erklärte er mir kapriziert.
„Es mag wichtig oder dringlich oder sonst was sein, Du bist hier bei mir und deshalb gelten meine Regeln. Also, Du darfst mich anreden wie Du willst“, entgegnete ich lapidar.
„Ich muss doch sehr bitten. Es handelt sich doch um eine geschäftliche Angelegenheit“, merkte er an.
„Für mich nicht. Also worum geht es?“, fragte ich und sah mich um. Eigentlich interessierte es mich nicht, was er zu sagen hatte. Geschäftlich, meinte er, wo ich doch mit Geschäften nichts am Hut habe, bloß mit Geschichten. Umständlich öffnete er seinen Aktentasche.
„Gibt es denn hier keinen Tisch? So kann man doch nicht arbeiten“, meinte er.
„Natürlich gibt es einen Tisch. Wenn Du über den See setzt, die Burg hineingehst, links wendest und die erste Tür öffnest, dort findest Du einen Tisch“, erklärte ich bereitwillig, und er wandte sich zum Gehen, als er merkte, dass ich ihm wohl nicht folgen würde.
„Kommen Sie denn nicht mit?“, fragte er irritiert.
„Nein, ich brauche ja keinen Tisch“, antwortete ich wahrheitsgemäß, so dass er wieder kehrt machen musste. Endlich holte er eine dicke Mappe aus seiner Tasche und hielt sie mir direkt unter die Nase.
„Ich möchte Sie auffordern diese sorgfältig zu lesen und mit ihrer Unterschrift zu versehen“, fügte er hinzu und hörte nicht auf mit der Mappe vor meiner Nase zu wacheln, so dass ich niesen musste.
„Unterschreiben? Ich könnte Dir ein Blümchen hinmalen. Blümchen kann ich. Ist auch viel netter als eine Unterschrift“, sagte ich sinnend.
„Ich will kein Blümchen, ich will eine Unterschrift!“, meinte er, langsam ungeduldig werdend.
„Was steht denn da drinnen?“, fragte ich bloß und ignorierte die Mappe so gut es ging.
„Deshalb sollen Sie es ja lesen, damit Sie es wissen!“, erwiderte er ungehalten.
„Dann erzähl es mir doch. Ich mag das jetzt nicht alles lesen. Ich habe jetzt keine Zeit dafür“, entgegnete ich.
„Was heißt da keine Zeit? Sie tun doch nichts“, sagte er verblüfft.
„Eben, und damit ist meine Zeit sehr gut ausgefüllt. Also, was steht denn nun da drinnen?“, fragte ich, in der vagen Hoffnung, dass er dann wieder ginge.
„Die Männer haben mich beauftragt auf Unterlassung zu klagen, außer wir einigen uns außergerichtlich, indem sie sich verpflichten endlich davon abzulassen diesen Teil der Menschheit so schmählich zu ignorieren und damit zu diskreditieren, indem sie verallgemeinern“, erklärte er feierlich, und begann wieder mit seiner Mappe zu wacheln.
Das Leben literarisch ergründen

Ungezähmt. Anleitung zum Widerstand


Der Weg ist das Ziel ist der Weg
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