Website-Icon novels4u.com

Liebe ist Anarchie (5): In Freiheit gesetzt

Noch immer hielt ich die Kerze in der Hand, die schon längst ausgegangen war. Ich hatte mich noch nicht davon erholt, von dem Schmerz, dass meine Träume ungelebt bleiben, sich meine Hoffnungen auf ein Miteinander in Freiheit und Verzicht auf Besitz nicht erfüllen würden. Es war nicht möglich. Nicht in dieser Welt. Nicht in dieser Gesellschaft. Ich saß da und der Regen fiel regelmäßig und stetig auf mich und meine ausgegangene Kerze. Ich hatte keine Kraft mehr, nicht einmal mehr die Hand zu heben, um sie über die Flamme zu geben. Wozu auch, wenn es keinen Sinn machte, keinen Ausweg und keine Hinwendung gab. Deshalb tat ich nichts als dazusitzen, im Regen, in der Dunkelheit, ernüchtert und ermattet, so sehr, dass ich die Kälte nicht spürte und auch nicht die Einsamkeit.

Und mit einem Mal, an jenem Punkt, an dem ich schon sämtliches Vertrauen fahren hatte lassen, auch die Hoffnungen, hörte der Regen auf. Ich öffnete die müden Augen, weil ich mich doch wunderte, dass im Land der Tränen kein Regen mehr fiel. So erkannte ich, dass dies ganz und gar nicht der Fall war, sondern nur ein Schirm über mich gespannt worden war, eine Hand sich näherte, zunächst meiner Kerze, sie zu entzünden. Und siehe, sie brannte. Dann erst sah ich den Arm entlang bis ich Deine Augen fand. Sanft zogst Du mich zu Dir hinauf, nahmst mich in den Arm, mich und meine Kerze. Achtsam gingst Du um, mit mir und meiner Kerze. Ich spürte, wie die Hoffnung zurückkehrte und auch die Träume. Sofort verbannte ich sie wieder in den hintersten Winkel meiner Selbst, die Enttäuschung fürchtend und die Zurückweisung.

„Durch die Zeiten und durch die Räume hindurch habe ich gesucht“, sprachst Du letztendlich, so dass mir erneut der Atem stockte. Nein, ich durfte nichts vorwegnehmen. Du hattest noch nicht gesagt, was Du gesucht hattest, denn wie oft hatten mich meine voreiligen Schlüsse schon getäuscht, aber da waren auch Deine Augen, die dieselbe Sehnsucht erfüllte wie meine. Oder war es nur, dass ich es mir nur zu sehr wünschte, sie darin zu lesen. Mir schwindelte allein bei dem Gedanken an die Möglichkeit.

„Ich habe nach einem Du gesucht, dem ich Du sein kann, ohne dass es mich vereinnahmt, ohne dass ich es vereinnahme“, fuhrst Du fort, und dennoch zögerte ich, um einfach zuzuhören, „Einem Miteinander, das mich sein lässt, in dem ich sein lassen darf. Ein herrschaftsfreier Raum, in dem wir einander sind, ohne Bestimmung, außer die, immer mehr zu werden, ohne Eifersucht, durchdrungen von der einzigen Leidenschaft zu atmen, zu lieben und zu sein. Die Offenheit und Freiheit eines Dürfens zu teilen.“

„Liebe ist Anarchie, herrschaftsfreier Raum, ohne Über- oder Unterordnung, ohne spezifische Rollenzuschreibung oder Vereinnahmung. Nichts Festgeschriebenes und alles im Fluss“, wagte ich nun doch einen Vorstoß, sacht zwar, aber deshalb nicht weniger entschlossen. Und ich fand ein Lächeln in Deinen Augen.

„Und so bist Du es, die ich suchte durch all die Zeiten und Räume“, bestätigtest Du mir, „Ich kann es kaum glauben, dass es Dich gibt, hier neben mir.“

„Und ich kann es auch kaum glauben“, musste ich zugeben, obwohl ich es wusste, gewusst hatte, von dem Moment an, da Du den Schirm über mich spanntest und meine Kerze wieder entzündetest. Nichts Unausgesprochenes würde je zwischen uns stehen, weil wir sein durften, in diesem Miteinander, das frei gibt und nicht einengt, das leben lässt und nicht zur Leblosigkeit verurteilt. Es war wie ein Traum, und doch kein Traum. Ich legte meine Hand auf Deine Wange. Und unser Kuss war. Und unsere Liebe war, weil sie schon immer war, wie das Leben, stark und fest und unerschütterlich, gerade weil sie nichts forderte, als sich selbst zu erfüllen. Mit jedem Atemzug. Mit jedem Herzschlag. Getragen von diesem Ineinander hinauszugehen in die Welt, mit der Gewissheit, dass uns das Leben beschenkt. Wir müssen nichts verheimlichen, nichts verstecken, denn alles ist erlaubt, alles gut, das uns befördert, Dich und mich. Denn Liebe ist, wenn sie frei setzt oder sie ist nicht. Liebe ist Anarchie.

Liebe ist Anarchie (1): Herz ausspeien
Liebe ist Anarchie (2): Herzflecken flicken
Liebe ist Anarchie (3): Herzkopf – Kopfherz
Liebe ist Anarchie (4): Festhalten

Noch mehr rund um das Thema Liebe

Geschichten über die Liebe und andere Absonderlichkeiten

Lebensbilder

Zweisprache

***


Die mobile Version verlassen