Buzz erwachte, als ihn die ersten Sonnenstrahlen an der Nase kitzelten. Es durchzuckte ihn wie ein Blitz, als er sich daran erinnerte, wie eindringlich ihn Kukka am Vortag gebeten hatte, nach Hause zu kommen. Es musste etwas wirklich Wichtiges gewesen sein, was sie ihm zu sagen hatte, denn es war das erste Mal, dass sie ihn mit solch einer Intensität gebeten hatte, nicht zu spät zu kommen. Doch dann war er versunken, in der Ausgestaltung des Hauses, das sein bestes werden sollte, so dass er die Zeit völlig vergessen hatte und gleich auf der Baustelle übernachtet hatte. Natürlich hätte er auch weniger arbeiten können. Seine Auftraggeber*innen wollten ein Haus von ihm, naturverbunden, authentisch und autonom, bei dem ausschließlich Naturmaterialien verwendet wurden, Lehm, Ziegel, Hanf, nachhaltig und bodenständig. Es spielte jedoch keine Rolle, ob es ein paar Wochen später oder früher fertig wurde. Wenn er ein Projekt annahm, dann nur, weil es für ihn eine Herausforderung darstellte. Schließlich konnte er es sich aussuchen. Einzigartig sollte es sein. Und dieses hier war sein Meisterwerk. Aber darüber hatte er Kukka vergessen. Normalerweise hätte er einfach die Schultern gezuckt und weitergearbeitet, doch irgendetwas beunruhigte ihn. Deshalb fuhr er trotzdem nach Hause.
Vorsichtig öffnete er die Türe, denn es war noch sehr früh am Morgen und falls Kukka noch schlief, wollte er sie nicht wecken. Das erste, was er wahrnahm, war diese tiefe Stille. Nicht einfach die Stille eines Hauses, deren Bewohner*innen noch schliefen, sondern jene der Abwesenheit, der Verlassenheit. In der Küche war noch immer der Tisch gedeckt, vom Vorabend. Kukka hatte alles stehengelassen, wie es war, auch die heruntergebrannten Kerzen. Buzz wurde stutzig. Sie musste tatsächlich auf ihn gewartet haben, Stunde um Stunde. Er sah sie vor sich, wie sie dagesessen und gehofft hatte, dass jeden Moment die Türe geöffnet wurde und er hereinkäme. Doch er war nicht gekommen. Auf Zehenspitzen schleichend ging er zum Schlafzimmer. Aber auch dieses fand er leer, ebenso wie alle anderen Zimmer. Erleichterung machte sich in ihm breit. Wenn sie jetzt schon unterwegs war, dann konnte es doch nicht so schlimm gewesen sein, dass er nicht da war. Beruhigt fuhr er zurück auf die Baustelle. Heute abend würde er tatsächlich früher nach Hause kommen, nahm er sich vor. Und er schaffte es, an diesem Tag zu einer angemessenen Zeit seine Arbeit niederzulegen, um Kukka zu sehen. Doch sie war nicht da. Als hätten sich die Rollen umgekehrt, saß nun er den ganzen Abend da und wartetet auf sie, doch sie kam nicht. Nicht an dem Abend, nicht in der Nacht und auch nicht am nächsten Morgen. Er begann sich zu sorgen. Verzweifelt rief er alle Menschen an, die sie kannten, doch niemand hatte etwas von ihr gehört oder gesehen. Wo war sie nur abgeblieben? Was war geschehen? War es das, was sie ihm hatte verkünden wollen, an jenem Abend, dass sie ihn verlassen wollte? So verging Tag um Tag in Ungewissheit und Unruhe. Jetzt erst merkte er, wie sehr er ihre Nähe und Zuwendung brauchte, wie gut sie ihm tat und wie sehr er sie vermisste. Sie war einfach immer dagewesen. Diese Selbstverständlichkeit hatte ihn gehalten, doch darüber hatte er vergessen, für sie da zu sein. Wie hatte er nur so blind sein können, so von seiner Arbeit eingenommen? Warum nur hatte es geschehen können, dass er sich zwar vornahm, für sie da, mit ihr wirklich zusammen zu sein, aber es nicht wirklich umsetzte? Weil er sich darauf verlassen hatte, dass es auch morgen sein konnte, was ihm heute nicht gelang. Immer wieder verschoben, bis es zu spät war. Plötzlich konnte er sehr oft zu Hause sein, hoffend, dass sie wieder zurückkäme, schwankend zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Wut und Resignation. Doch letztlich war er völlig hilflos, ausgeliefert der Entscheidung eines anderen Menschen, die er – war er in lichten Momenten wirklich ehrlich zu sich selbst – auch allzu gut nachvollziehen konnte. Aber sie hätte ihm doch zumindest eine Nachricht hinterlassen können. Und tatsächlich kam ein Brief, fünf Wochen später. Sofort riss Buzz den Umschlag auf und begann zu lesen.
„Geliebter Buzz! Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich bereits tot. An dem Tag, an dem ich Dich gebeten hatte, rechtzeitig zu Hause zu sein, wollte ich es Dir erzählen. Am nächsten Tag musste ich ins Krankenhaus. Es war eine besonders bösartige Form von Darmkrebs diagnostiziert worden. Trotzdem wollte ich alle notwendigen Therapien über mich ergehen lassen. Anscheinend hat es nicht gefruchtet. Eigentlich schade, denn das Leben war wunderbar, viele Jahre auch mit Dir. Dafür möchte ich Dir danken. In Liebe, Kukka.“
Buzz sank in sich zusammen. Der Brief entglitt seinen Händen und Tränen bahnten sich ihren Weg, Tränen der Wut über sein Versagen, seine Nachlässigkeit, die er nicht mehr ausgleichen konnte, Tränen der Verzweiflung, nie wieder gut machen zu können. Nein, man kann sich nicht darauf verlassen, dass es eine weitere Chance gibt. Man muss die nutzen, die man hat. Genau das hatte er verabsäumt. Doch jetzt war es nicht mehr gutzumachen. Nichts mehr war je wieder gutzumachen.
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