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Life is too short for boring stories

Lew, der Russe. Lew, der Mörder. Oder einfach nur der Russe. Oder einfach nur der Mörder. Das passte, für die, die nichts weiter wussten, als dass er aus Russland kam. Mehr brauchte man nicht zu wissen. Russen sind Kriegstreiber. Russen sind homophob. Russen sind Kommunisten. Und Russen sind Mörder. Auch Mörder an alten, netten Damen, die immer nur Gutes taten.

Am Morgen des 28. Mai 2022 wurde die Leiche der Sofia Andrejewna Smirnowa in ihrer Villa aufgefunden. Ihr war der Schädel zertrümmert worden. Mit einem Spaten. Besagtes Tatwerkzeug wurde, neben der Eingangstür zu der Hütte, in der Lew wohnte, an der Mauer lehnend, aufgefunden. Es war eben jene Hütte, die Lew von der Gräfin Smirnowa zum einsteiligen Gebrauch zur Verfügung gestellt wurde, für die Zeit, in der er für sie als Gärtner tätig war. Der Spaten war, blutig wie er war, dort abgestellt worden. Den Besitzer fanden die Beamt*innen der Kriminalpolizei schlafend im Bett vor. Widerstandslos ließ er sich Handschellen anlegen und abführen. Und er sagte kein einziges Wort. Weder bei der Festnahme, noch beim anschließenden Verhör. Was sollte er auch sagen? Alle waren sich einig, im Dorf und bei der Polizei, ausnahmslos, dass Lew, der Russe, auch der Täter war. Alle, bis auf eine. Lea Lenz, die neben Lew wohnte, erhob lautstarken Protest. Es änderte nichts. Zumindest nichts an der Festnahme, aber für Lew. Zumindest ein Mensch hielt zu ihm.

„Lew Ponomarjow ist der ideale Täter“, sinnierte Hauptkommissar Krystian Kowalczyk, der es sich in dem feudalen Lehnstuhl im Wohnzimmer der Smirnowa-Villa gemütlich gemacht hatte und den Blick durch den Garten schweifen ließ, der dank des großen Panoramafensters gut zu überblicken war, „Er ist Ausländer, noch dazu aus Russland. Er hat keine Freunde und keinen Einfluss. Er ist einfach nur ein Junge in einem fremden Land, der still und für sich lebt. Das macht ihn zum idealen Sündenbock. Der Mob fragt nicht nach dem Motiv. Es ist passend. Keiner von uns.“ „Aber es gibt ein Motiv“, unterbrach ihn Helga Unterhuber, seine junge Kollegin. „Tatsächlich?“, erwiderte der Hauptkommissar, „Das wissen wir schon. Und wie sieht dieses aus?“ „Lew Ponomarjow ist der Haupterbe“, erklärte die Angesprochene, „Er erbt das Haus, das Grundstück, den Schmuck und das gesamte Geld.“ „Nicht schlecht“, meinte er, „Hat er das gewusst? Ich meine, dass er erbt?“ „Das kann man so nicht sagen, nachdem er nicht den Mund aufmacht“, sagte die Kommissarin mit resigniertem Unterton, „Aber dafür ist seine Freundin, diese Lea Lenz um so gesprächiger. Auch wenn man nicht weiß, was man ihr glauben kann.“ „Erzählen Sie mir einfach, was sie gesagt hat. Dann können wir uns immer noch Gedanken machen, ob es glaubwürdig ist oder nicht bzw. ob wir es überprüfen können oder nicht.“ „Also gut. Lea Lenz erzählte uns Folgendes. Lew Ponomarjow ist der Sohn russischer Dissidenten. Als seine Eltern vor sechs Jahren verhaftet wurden, floh er aus Russland und landete nach einer abenteuerlichen Reise hier, in diesem Ort“, führte Helga Unterhuber aus, „Bis auf das Wenige, das er in aller Eile in einen kleinen Rucksack gestopft hatte, besaß er nichts. Bloß die Adresse von dieser Smirnowa. Da ging er auch schnurstracks hin und läutete an. Es war angeblich bekannt, dass diese Adelige, was auch immer sie sein mochte, Gräfin oder so, Landsleuten in Not half. Jedenfalls bat er darum, als Gärtner beschäftigt zu werden, denn das hatte er gelernt. Daraufhin stellte sie ihn nicht nur ein, sondern überließ ihm die Gartenhütte, um darin zu wohnen. Kost war auch frei und er durfte, wenn der Garten der Smornowa in Ordnung war, auch noch andere Arbeiten annehmen. Davon machte er ausgiebig Gebrauch. Er galt als fleißig, aber er redete kaum etwas.“ „Wahrscheinlich, weil er nicht Deutsch kann und ich kenne nicht viele Menschen in unseren Breiten, die Russisch beherrschen“, warf der Hauptkommissar ein. „Ganz und gar nicht, denn hier kommt Lea Lenz ins Spiel“, führte die Kommissarin aus, „Sie ist seine unmittelbare Nachbarin und irgendwie so ein Gutmensch. Jedenfalls erbot sie sich, mit ihm Deutsch zu lernen, was er, ihrer Aussage nach, inzwischen fließend beherrscht, aber er spricht mit niemandem, außer mit ihr.“ „Was für eine Ironie“, erklärte der Hauptkommissar, „Da schlägt einer seiner Wohltäterin den Schädel ein, mit seinem Spaten, mit seinen Fingerabdrücken und stellt das Tatwerkzeug dort ab. Eigentlich scheint alles glasklar zu sein. Als würde er sich selbst am Serviertablett anbieten. Es tut mir leid, so gut auch alles zusammenpasst incl. Motiv, ich kann es nicht glauben, dass jemand so blöd sein soll.“

Lew, der im Ort einfach nur der Russe genannt wurde, saß in seiner Zelle in Untersuchungshaft, bar jeder Hoffnung, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass auch nur ein Mensch für ihn Partei ergreifen würde. Er wusste, dass alles gegen ihn sprach und war bereit, alles hinzunehmen.

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2 Gedanken zu “Lew, der Russe (1)

  1. oma99 sagt:

    Danke für diesen ersten Text zum aktuellen Thema “Russen”. Viele, viel zu Viele, haben “die Russen” als Bösewichte, Übeltäter, Mörder, Diebe, etc., stigmatisiert und überlegen nicht ob dies so verallgemeinernd getan werden kann. aber wir merkenn es ja immer wieder – “die Juden”, “die Zigeuner(Roma, Sinti)”, “die …”, – es ist so einfach und schon hat man immer jemand(e) zum verteufeln und auf den/die man alles negative abwälzen kann.
    Wir müssen hier individuell differenzieren und nicht verallgemeinern! Wir müssen aber auch schauen, wer und/oder was tatsächlich hinter Krieg, Mord und Totschlag, etc., steckt – und wie die Situation der Menschen tatsächlich ist.

    1. novels4utoo sagt:

      Genau das war mein Anliegen. Aber zu differenzieren ist sicher nicht jedermanns/fraus Stärke. Es ist auch so viel einfacher, Menschen aufgrund irgendeines Merkmales in eine Schublade zu stecken und sie einfach drinnen zu lassen. Man denkt nur sehr selten daran, was das mit den Menschen macht.

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