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Life is too short for boring stories

Da wurde Katie doch aufmerksam. Ja, wann hatte sie ihn das letzte Mal gesehen? War es heute morgen gewesen, oder war das gar schon gestern? Er hatte aufgehört sich um sie zu kümmern, also hatte auch sie aufgehört sich um ihn zu kümmern. So einfach, folgerichtig – und falsch war ihre Vorgehensweise. ‚Wie Du mir, so ich Dir’, meinte sie, und wähnte keinen Fehler darin. Wer weiß ob er das überhaupt wollte, dass sie sich um ihn kümmerte? Über solche Dinge sprachen sie eben nicht. Worüber sprachen sie dann? Sprachen sie überhaupt noch miteinander? Rasch fegte sie all diese Fragen beiseite. Allerdings war sie nun doch aufmerksam geworden, zumindest neugierig.

Kurzentschlossen ging sie zu seinem Arbeitszimmer, um vor der Türe doch nochmals innezuhalten und ihre Entschlossenheit hintanzustellen, denn schließlich, wo sollte er sonst sein, als da drinnen. Den Atem anhaltend, schwankend zwischen Rückzug und Angriff, presste sie ihr Ohr an die Türe. So sehr sie sich auch konzentrierte, da war kein einziges Geräusch zu vernehmen. Ganz vorsichtig öffnete sie die Türe, denn schließlich wusste sie nur allzu gut wie sehr ihr Mann es hasste bei der Arbeit unterbrochen zu werden. Stockfinster war es in seinem Arbeitszimmer, stellte sie fest. Dennoch bestand kein Zweifel daran, dass der anonyme Schreiber recht hatte, ihr Mann war nicht da. In diesem Moment schlug die große Standuhr Mitternacht. So schnell sie konnte lief Katie zurück zu ihrem Laptop:

„Wo ist mein Mann? Was haben Sie ihm angetan?“

Der Bildschirm flackerte noch kurz auf, und dann war er dunkel, doch nicht nur der Bildschirm, auch alle anderen Lichter im Haus gingen aus. Ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie völlig allein in diesem großen Schloss war, völlig allein, nur umgeben von undurchdringlicher Dunkelheit. Doch ihre Sorge galt nicht ihr selbst, wie sie erstaunt feststellte, sondern ihrem Mann. Wo konnte er nur sein? Verzweifelt versuchte sie sich zu konzentrieren. Hatte ihr der anonyme Schreiber nicht in seiner ersten E-Mail einen Hinweis gegeben? Was war das nur? Ach ja, sie sollte ihn vom Marterpfahl retten. Doch was war mit Marterpfahl gemeint? Schließlich befanden sie sich in Irland und nicht auf einer Kuhweide in Amerika. Da erinnerte sie sich daran, dass sie als Kinder einen Baum gehabt hatten, den sie bei ihren Spielen zum Marterpfahl erklärt hatten. Doch woher sollte der Schreiber davon wissen? Andererseits war es das Einzige, was ihr einfiel. Es war ihr Strohhalm, an den sie sich verzweifelt klammerte, denn ihre Sorge hatte sich mittlerweile in nackte, kalte Angst gewandelt. Was, wenn er verwundet war, oder gar Schlimmeres? Sie sah ihn gebunden an diesen Baum, verlassen und hilflos, im Wald hinter dem Moor.

Ohne weiter nachzudenken, stolperte sie im stockdunklen Schloss die Treppe hinunter. Ihre Angst beflügelte sie. Nein, die Nacht war nicht stockdunkel. Unentzifferbare Schatten zeichneten sich ab. Das leiseste Geräusch ließ sie zusammenzucken, und ein einsames, dunkles Schloss war voller solcher Geräusche. Endlich hatte sie das große Eingangstor erreicht und trat hinaus in die Nacht. Schwerer Nebel war eingefallen und ließ die Ebene noch gespenstischer erscheinen. Dennoch ging sie weiter, hinaus aus dem Vorhof in Richtung Moor. Überall schien es zu wispern und zu flüstern: „Kehr um! Kehr um!“ Doch sie ging weiter, unbeirrt.

Nein, es war nicht immer so gewesen, dass sie sich nicht umeinander gekümmert hatten. Natürlich hatte er arbeiten müssen, auch zu Beginn, doch die Abende und die Wochenenden hielt er, so weit es möglich war, für sie frei. Miteinander besuchten sie Theater- und Opernvorstellungen, Museen und Vernissagen. Er holte sie hinein in seine Welt des Wortes, und sie ihn in ihre des Bildes. So viele Träume und Ideen hatten sie gehabt, Wort und Bild zu vereinen. Wo bloß hatten sie diese verloren?

Hier geht es zu Teil 3.

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