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Life is too short for boring stories

Marianne war Mutter von vier Kindern. Die drei Großen waren schon rausgewurschtelt, wie man so schön sagt. Drei Mädchen waren es, 20, 18, und 16 Jahre alt. Drei brave Mädchen. Es hatte keine nennenswerten Schwierigkeiten gegeben. Alles verlief nach Plan. Rund um sie erlebte sie immer wieder Familien, die sog. „Problemkinder“ hatten, wobei sie es als Außenstehende nicht zu beurteilen vermochte, ob das Problem denn wirklich die Kinder waren oder sie nur als Spiegel fungierten. Kinder spiegeln ihre Umgebung. Doch bei ihr schien alles perfekt zu sein. Die Mädchen waren leutselig, offen und zugewandt, ehrlich und verbindlich. Alle gefährlichen Klippen hatten sie umrundet, ungeschoren. Alle drei lernten brav und gaben niemals Grund zur Sorge, so dass Marianne schon seit vielen Jahren wieder arbeitete. Freiberuflich, denn sie wollte sich auch Zeit nehmen für ihre Kinder, denn wozu sollte man Kinder in die Welt setzen, wenn man sie dann nie zu Gesicht bekäme, war zumindest ihre Meinung. Jede konnte es halten, wie sie wollte, doch für sie war das der Weg, auf dem sie sich wohlfühlte.

Als die Mädchen klein waren arbeitete sie weniger, und unternahm viel mit ihnen. Je selbständiger sie wurden, desto mehr arbeitete sie. So waren alle zufrieden, bis ihr Nachzügler auf die Welt kam. Sechs Jahre war das mittlerweile her. Der Kleine war der erkorene Liebling seiner großen Schwestern. Sie stritten sich fast darum, sich um ihn kümmern zu dürfen. Überall war der Kleine dabei. Für ihn war immer jemand da, der mit ihm spielte. Alles schien wunderbar zu sein, bis zu diesem Tag. Vor einer Woche war Mariannes Jüngster, Max, eingeschult worden, und schon musste sie zur Lehrerin kommen. Nach einer Woche. Aber Marianne dachte sich nichts weiter dabei. Bei ihren Kindern, da war doch schließlich nie etwas gewesen, und da würde auch niemals was sein.

Frohgemut betrat sie das Schulgebäude, um eine halbe Stunde später, verstört, aber dafür um eine Strafpredigt reicher, den Sohn an der Hand, dasselbe wieder zu verlassen. In ihrem Kopf hämmerte es, während der kleine Junge an der Hand, sehr wohl spürend, dass die Worte, die die Lehrerin zu seiner Mutter gesagt hatte, diese nicht unbedingt schön gefunden hatte, auch wenn er sie nicht verstand. Offen gesagt hatte er noch nicht einmal wirklich zugehört. Da waren so komplizierte Worte vorgekommen, und während er sich ausklinkte, ging er in Gedanken schon durch, was er an diesem Nachmittag nicht alles Tolles machen wollte. Das Loch weitergraben im Garten, z.B. Dort wollte er im nächsten Frühjahr Kaulquappen ansetzen, um zu beobachten wie daraus Frösche würden. Oder das Geschenk für seine Schwester. Papa hatte er das Holz abgeluchst, und nun hämmerte und sägte er was das Zeug hielt. Marianne schwirrten die schwierigen Wörter unterdessen durch den Kopf. ADHS war gefallen. Das konnte doch nicht sein! Max war aufgeweckt und umtriebig. Ständig bastelte er irgendetwas und konnte mittlerweile so gut mit den diversen Werkzeugen umgehen wie es wohl sobald kein anderes Kind konnte. Und plötzlich sollte er Verhaltensauffälligkeiten zeigen, sollte Anweisungen nicht befolgen. Und er schrieb auch nicht gerade auf der Zeile, so wie er es sollte. Ständig zappelte er auf seinem Stuhl herum, und die Unruhe wirkte ansteckend auf die Klassenkameraden. Die Lehrerin hatte Marianne eingebläut, dass sie Max zu mehr Disziplin drängen solle. Plötzlich ließ sie die Gedankenspiralen sein und sah ihr Kind an. Max blieb stehen und erwiderte ihren Blick.

„Was hältst Du davon, wenn wir nicht direkt nach Hause gehen, sondern einen kleinen Spaziergang machen?“, fragte Marianne, während sie doch das schlechte Gewissen drückte ihm nicht sofort eine Strafpredigt zu halten.
„Du meinst jetzt?“, entgegnete Max ungläubig.
„Ja, jetzt“, bestätigte Marianne.
„Super!“, entfuhr es ihm, als er sich endlich sicher war, dass es seine Mutter ernst meinte. So nahmen sie den Umweg durch den Wald, und während Max frohgemut herumsprang, immer wieder auf etwas deutend, was er toll fand und viele Schätze einpackte, erkannte Marianne das Problem. Nicht ADHS, sondern unbezwingbare, raumgreifende Lebens- und Entdeckerfreude war es. Doch die hat in der Schule keinen Platz.

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