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Life is too short for boring stories

Es geht heutzutage alles digital, der Kalender, die Einkaufsliste, die Kontaktliste und bald einmal der menschliche Kontakt. Da stellt man dann die Handys hin und sagt „Unterhaltet Euch mal miteinander, macht mal so ein bisschen Beziehungsarbeit“, während man sich selbst ausruht, von … ja wovon. Das tut hier nichts zur Sache. Ich habe das auf jeden Fall eine Zeitlang mitgemacht und mich damit nicht wirklich wohl gefühlt. Deshalb kaufte ich mir zuerst einen Kalender, so ein Buch aus Papier, aus Recyclingpapier mit tierleidfreiem Leim, um es genau zu sagen, weil man da so schön blättern kann, auch mal zurück oder vor, sich Notizen machen, Anmerkungen und geheime Botschaften, denn analog kann man eindeutig noch nicht überwacht werden. So ein klein wenig Privatsphäre ist doch was Nettes. So ward der Kalender auch gleichzeitig zum Tagebuch erkoren. Doch etwas fehlte mir. Lange brauchte ich, um zu erkennen, welchen Mangel ich litt, doch es gelang mir. Dabei war die Lösung so einfach wie naheliegend und deshalb am leichtesten zu übersehen.

Das Problem tauchte erstmals im Bett auf. Ich war gerade so im Halbschlaf, also diesen wunderbaren Zustand zwischen Wach-Sein und Schlafen, in dem die Gedanken unbegrenzt und ungehindert fließen können, ohne Störung oder Zensur, ganz gleich wohin sie wollten, sie durften es, gleich kleinen Vögelchen, die freigelassen wurden und nun ihre Freiheit genossen. Sind sie zu vielen anderen Zeitpunkten eingesperrt in Konventionen und Rücksichten, die sie auf eingefahrenen Bahnen laufen lassen, auf denen nichts Neues entstehen kann, wie sich eigentlich von selbst versteht, so kennt ihre Neugierde und ihre Experimentierlaune hier keine Grenzen. So fügen sich Gedanken zusammen, die ich in jeder anderen Situation für nicht passend erachtet hätte, so dass etwas völlig Unerwartetes herauskommt, etwas, das es vorher vielleicht noch nicht gab, eine Lösung, eine Geschichte oder einfach nur ein Satz, der durchaus zitierenswert ist. Da lag ich also, eingemümmelt in meine Decke, mit diesem wunderbaren Gedanken, den ich nicht mehr verlieren durfte und überlegte kurz, mich nun nochmals aufzurichten, das Licht aufzudrehen, um diesen wahren Geistesblitz zu notieren. Aber ich entschied mich dagegen. Mit dem Satz „Bis morgen merkst Du Dir das schon“ beschwichtigte ich meine Skepsis, schlief frohgemut ein und wachte in ebensolcher Stimmung auf, um mir jenen Gedanken wieder ins Gedächtnis zu rufen. Bloß er war weg. Nicht nur Bruchstücke oder Teile, sondern er war gänzlich verschwunden, irgendwo in den Untiefen meines Gedächtnisses vergraben. Nichts mehr war zu finden. So sehr ich mir auch den Kopf zermarterte. Ich hatte versagt, auf ganzer Linie. Und während ich noch so im Bett saß und mich über meine Nachlässigkeit ärgerte, nahm ich mir vor, dass mir so etwas nie wieder passieren dürfte. Das nächste Mal, so schwor ich mir selbst, würde ich einen Stift nehmen und, ja was und? Worauf hätte ich denn bitte schreiben sollen? Auf welchem Medium hätte ich meine Gedanken festgehalten? Der Stift, ja der lag auf meinen Nachttisch, aber sonst nichts Brauchbares. Selbst dieses Problem ließ sich nach einigen Überlegungen lösen, es war das Notizbuch, so wie ich es früher hatte. Das war ein ständiger Begleiter, denn man weiß schließlich nie, wann der nächste Überfall einer revolutionären Idee geschieht. Das kann immer und überall geschehen. „Das war damals eine gute Idee von Dir gewesen“, musste ich neidlos anerkennen, obwohl ich den Umweg über das Digitale nehmen musste, um zu den Anfängen wieder zurück zu kehren. Sozusagen zu meinen Wurzeln. Das nächste Mal also, da mir ein solcher Gedankenblitz zustieß, zwischen Wachen und Schlafen, setzte ich mich auf, nahm mein nunmehr neuerworbenes Notizbuch zur Hand, schrieb jene Eingebung nieder, um mich höchstzufrieden wieder dem Einschlafen zu widmen. Am nächsten Morgen fahndete ich, ebenso wie beim letzten Mal, in meinem Gedächtnis nach meinem Gedanken, doch er war auf dieselbe Weise verschwunden. „Aber diesmal hast Du ihn Dir ja aufgeschrieben“, konnte ich frohgemut vermerken, woraufhin ich stolz und beinahe freudig erregt, nach dem Notizbuch griff, es aufschlug, jenen sogenannten Geistesblitz las und merkte, wie meine anfängliche Freude schlagartig das Weite suchte, denn es mochte vielleicht wirklich ein großartiger Gedanke gewesen sein, doch ich hatte verabsäumt das Licht aufzudrehen und auf gut Glück im Dunklen geschrieben, so dass ich kein Wort entziffern konnte. Dennoch der erste Schritt war getan und die kleinen Unzulänglichkeiten würde ich auch noch überwinden. Gut nur, dass ich mein Notizbuch habe.

Aus: Alles ganz normal. Geschichten aus dem Leben


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