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Life is too short for boring stories

„Atme, atme, verdammt atme“, dachte ich verbissen. Irgendetwas steckte in meiner Luftröhre fest und wollte partout nicht weggehen, etwas aus einem elastischen Material. Es pulsierte. Ich röchelte. Es blieben mir nur noch wenige Augenblicke, dann würden mir die Sinne schwinden und ich würde ersticken. Es bewegte sich keinen Zentimeter, das Ding in meinem Hals. Mit der Kraft der puren Verzweiflung schlang ich meine Finger ineinander, so dass meine Hände eine kompakte Schlagwaffe ergaben und hieb mir gegen das Brustbein, so dass das elastische, pulsierende Etwas aus meinem Hals herausgeschleudert wurde. Wie gut es ist Luft zu atmen. Gierig sog ich sie in mich ein. Beruhigung trat ein. Dann sah ich mir das Etwas an, das ich auf den Boden gespien hatte, bevor es mir den Todesstoß versetzen konnte. Es war nicht schwer zu erkennen, und dass es mir den Atem raubte, das war auch nicht wirklich was Neues. Es war mein Herz.

Mein Herz, das jetzt vor mir am Boden lag, statt in meiner Brust zu schlagen. Wie lange konnte man wohl ohne Herz leben? Manche wohl ihr Leben lang, dachte ich mir automatisch, so herzlos wie sie agierten. Aber das könnte auch eher metaphorisch gemeint sein. Ich jedenfalls hob mein Herz vom Boden auf. Es war ein wenig verstaubt, auch wenn ich dachte, ich hätte es bisher ausreichend genutzt. Aber kann man sein Herz ausreichend nutzen? Kann man je genug herzlich sein, oder gar zu viel? Oder herzig? So wie putzig und niedlich und überhaupt ein wenig zu klein geraten, auch in seiner emotional-pragmatischen Zuwendung. Eines ohne das andere ist schal. Pragmatik ohne Emotionalität ist Technik. Emotionalität ohne Pragmatik ist Ziellosigkeit. Miteinander in den Abgrund zu gehen ist zumindest ein Miteinander. Aneinander zu erfrieren ist zumindest ein Aneinander. Aber mein Herz war so genutzt oder ungenutzt wie ich es zuließ oder die anderen. Wenn ich mich kindisch-beleidigt zurückzog, verschnupft und verstimmt, da meine herzliche Zuwendung keinen Anklang, keine Antwort fand. Doch jetzt war das Herz in meiner Hand. Pulsierend. Ich lebte. Es fühlte sich zumindest so an, weil es sich einfach nicht anders anfühlte als sonst, und wenn ich von der Annahme ausging, ich hatte bis jetzt gelebt, und es war nicht anders als sonst, müsste ich jetzt auch leben. Ich ließ es als Arbeitshypothese im Raum stehen. Es war auch nicht wichtig, weil ein Zustand eben ein Zustand ist und ich mich um mein Herz zu kümmern hatte. Ich wollte es wieder an den Platz zurückbekommen, woher es gekommen war, bevor es mir fast die Kehle versperrt hatte.

„Frau erstickt an ihrem eigenen Herzen!“, hätte doch sicherlich eine gute Schlagzeile abgegeben, aber nur deswegen wollte ich nicht sterben. Ein allzu kurzer Ruhm. Nun war es aber mal heraußen, und sollte wieder zurück, schon allein aus der praktischen Überlegung, dass ich es dann nicht irgendwo liegen lassen konnte, wie es eben sonst meine Art war. Und wenn es dann wer anderer einsteckte. Sah doch ein Herz aus wie das andere. Es gab ja so viele Herzensdiebe. Und wenn er dann noch einer von diesen Brechern war. Herzensbrecher. Nicht auszudenken. Ich nahm es an mich und versuchte es mit aller Gewalt, die ich aufbringen konnte, in meinen Rachen zurückzustopfen. Doch es ging nicht. Es war, als würden sich die Klappen aufstellen und die Arterien sperren, wie Stacheln. Deshalb legte ich es auf einen Teller und schnitt es scheibchenweise auseinander, aß es auf, um es am nächsten Morgen aus der Toilette zu fischen, im Ganzen. Nachdem ich es gesäubert und abgetrocknet hatte, besah ich es nochmals genau. Es sah noch genauso aus wie am Vortag, nur dass man genau erkennen konnte, an welchen Stellen ich es zerschnitten, an welchen ich es zerbissen hatte. Spuren der Einverleibung, aber ansonsten war es heil. Und nachdem es nicht mehr in mich wollte, holte ich weit aus und warf es in die Luft.

„Mögest Du mit den Winden fliegen, den Winden des Nordens, des Südens, des Westens und des Ostens“, dachte ich ihm hinterher und sah, wie es von einer Windböe erfasst wurde und über die Erde flog, in alle Winkel, in alle Höhen und Tiefen, in alle Breiten und Längen, „Fliege und schau sie Dir an diese Welt, Herz!“ Das war mein Auftrag und meine Belastung. Es würde stranden, verloren gehen und nicht wiederkommen. Vielleicht konnte es auch jemand brauchen.

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4 Gedanken zu “Liebe ist Anarchie (1): Herz ausspeien

  1. wiedereinmal: starker Tobak,
    Denk- und Fühl-Stoff für diejenigen, die denken und fühlen mögen.
    Manch einem Menschen könnte es den richtigen Schub zum denken und fühlen geben – wenn er/sie/es es denn zulassen würde.
    Danke für’s niederschreiben.

    1. novels4utoo sagt:

      Danke Dir für diese Einschätzung. Ja, das wäre mir wichtig und deshalb schreibe ich es. Ich denke doch, dass ich den einen oder anderen, die eine oder andere, erreichen kann – so wie Dich.

  2. anyone100 sagt:

    Wow – mehr fällt mir im Moment nicht ein

    1. novels4utoo sagt:

      Danke!

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