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Life is too short for boring stories

„Das freut mich sehr“, erwiderte ich lächelnd, nachdem mich meine beste Freundin zum fünfzehnten Mal an diesem Abend umarmt hatte und mir versicherte, wie toll dieser Abend war. Man muss wissen, sie ist sehr empathisch und, auch wenn ich das nie zugegeben hätte, an diesem Abend war ich ihr sehr dankbar dafür. Es war der Silvesterabend, und wenn man mir nicht diesen Auftritt aufgeschwatzt hätte, dann wäre ich wahrscheinlich zu Hause geblieben. Ich hatte so viele Silvester erlebt, dass ich mir sicher war, es gab keine Überraschungen mehr. Doch nun war ich froh, hier auf der Couch zu sitzen, umgeben von netten Menschen, zu plaudern und den Jahresausklang zu genießen. Es hatte keine Bedeutung, welcher Tag es war, aber durchaus mit wem man die Zeit verbringt. Und so war ich mitten in ein interessantes Gespräch vertieft, als die Türe aufging und jemand ins Zimmer trat, der mich verstummen ließ. „Das kann doch nicht wahr sein“, schoss es mir unwillkürlich durch den Kopf, „Mein größter Traum und Alptraum zugleich.“

Grundsätzlich hielt ich mich für taff und unerschütterlich, eine Frau, die mitten im Leben steht, fest, auf beiden Beinen und keine Unsicherheit kennt, bis ich ihm begegnete. Da geschah etwas, wofür ich jeden ausgelacht hätte, wenn er es mir erzählt hätte.

„Es wird Dir ein Mann begegnen, Deine Knie werden zu schlottern beginnen, Deine Finger zittern und Du wirst kein einziges Wort herausbringen“, wurde mir erzählt, über dieses unheimliche Phänomen, das schon eher einem pathologischen Befund glich. Aber in dem Moment geschah es, geschah es mit mir. So sehr ich mich auch dagegen wehrte, es hatte keinen Sinn. Es war, als hätte sich ein Teil von mir selbständig gemacht und war partout dazu entschlossen, jegliche Vernunft in den Wind zu schießen. Es dauerte drei Tage, volle drei Tage bis ich mich von dieser Begegnung erholt hatte. Dabei war nichts weiter geschehen, als dass wir einander vorgestellt worden waren und wir ein paar Worte wechselten, unbedeutend, und dennoch fragte ich mich danach ständig, ob ich nicht gestottert und die Augen niedergeschlagen hatte oder gar rot geworden war. Wie peinlich man doch sein kann, und das in meinem Alter.

„Das war nur das eine Mal“, versuchte ich mir schlussendlich einzureden, „Das nächste Mal wird Dir das nicht mehr passieren.“ Einreden konnte ich es mir ja, bloß half es nicht. Es wurde kein bisschen besser, nicht beim zweiten, auch nicht beim dritten oder vierten Mal, bei gar keinem Mal. Das einzige was mir gelang war, es besser zu kaschieren. Blieben nur die drei Tage Rekonvaleszenz. Aber davon wusste zum Glück niemand, außer mein Tagebuch. Und dann begannen die Träume, süße, romantische Träume. Ich wusste natürlich, dass ich keine Chance hatte, aber träumen würde man wohl dürfen. Sicher, er war immer höflich zu mir gewesen, aber er gehörte zu den Menschen, die zu jedem freundlich waren, so lange der andere ihm auf die gleiche Weise begegnete. Das war ein Teil dessen, was mir so gefiel. Diese Ruhe und Besonnenheit, die er ausstrahlte, aber auch Konsequenz und Männlichkeit im besten Sinne des Wortes. Und dann erschien er plötzlich hier. Sofort stellten sich die altbekannten Symptome ein. Verstohlen betrachtete ich ihn, wie er mit dem einen oder anderen, der einen oder anderen kurz plauderte, um dann direkt auf mich zuzukommen.

„Verdammt, er kommt auf Dich zu“, schoss es mir durch den Kopf, „Und was, wenn er sich jetzt hersetzt und …“ Aber da war schon alles zu spät, er stand schon vor mir, so dass ich auch aufstand und er mir dieses bezaubernde, bubenhafte, neckische Lächeln schenkte, das wohl auch in meinen Träumen ab und zu vorgekommen war. Es verschwand allerdings auch wieder, und sein Blick wurde ernst.

„Ich möchte Dir gerne was sagen“, begann er, und ich erschrak unwillkürlich. Würde er mir jetzt Vorwürfe machen? Aber worüber, ich hatte doch immer tunlichst vermieden, dass irgendjemand etwas auffiel. Das war völlig unmöglich.

„Eigentlich wollte ich das schon lange, aber irgendwie dachte ich, es hätte keinen Sinn, so distanziert wie Du immer warst“, sagte er, und meine Augen wurden immer größer, ich und distanziert, „Aber dann dachte ich, schließlich bin ich ein Mann und mehr als Nein sagen kannst Du ja schließlich nicht. Das ist zu verkraften.“

„Ok“, erwiderte ich gedehnt, aufs Äußerste gespannt. Heimlich kniff ich mich in den Arm, um sicher zu gehen, dass ich auch nicht schliefe, aber ich war tatsächlich wach.

„Seit ich Dich das erste Mal gesehen habe, ist mir ganz sonderbar“, fuhr er fort, und ich merkte, wie meine Knie noch mehr schlotterten als gewöhnlich, „Ich denke, ich habe mich in Dich verliebt und ich weiß, das kommt überraschend …“ Aber weiter kam er nicht, denn da gaben meine Knie endgültig nach und die Sinne schwanden mir. Es verklang gerade der letzte Schlag der Uhr zur Mitternacht, als ich in seine Arme sank. Und da soll nochmal einer sagen, es gäbe zu Silvester keine Überraschungen mehr.

Aus: Weibliche Ohn-machten


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