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Life is too short for boring stories

Es hatte tatsächlich geschneit, offenbar die ganze Nacht und es wollte nicht aufhören. Kein gewöhnlicher Anblick in jener Gegend. Hope und ihre Babies waren ein wenig irritiert, aber auch neugierig. Sie steckten die Nase in den Schnee. Da gab es so viel zu riechen, als würden die Gerüche im Schnee noch intensiver sein. Joy spielte Schneeflocken fangen und nach anfänglicher Skepsis, taten es ihm seine Schwestern gleich. Es war ein Vergnügen ihnen zuzusehen, die Entdeckerfreude, die Lust am Leben und all seinen Geheimnissen. Es wirkte ansteckend. Erinnerungen kamen wieder. Rodeln. Sich in den Schnee legen, die Arme und Beine auf und ab bewegen, und wenn man aufstand sah es aus, als wäre ein Engel im Schnee gelegen. Schneeballschlachten. Schneeburgen bauen. Bis man völlig durchnässt war und mit warmen Kakao belohnt wurde. Dann erzählte man, atemlos, mit roten Bäckchen und voller Glücksseligkeit. Die Mutter hörte zu und lächelte. Das war damals.

Wenn ich durch den Ort gehe, zu Hause, oder eben dort, wo ich wohnte, da hatte ich schon lange keine Spuren mehr entdeckt. Keine vom Rodeln. Keine von Schneebällen. Keine von Schneeburgen. Und die Engel waren längst davongeflogen.

„Wo sind die Kinder?“, fragte ich mich und die anderen.

„Zu Hause, im Warmen, damit sie sich nicht verkühlen“, meinte Maria achselzuckend.

„Zu Hause, weil jemand mitgehen müsste und die Aktivitäten unter Beobachtung halten“, sagte Jesus.

„Man könnte mitspielen. Man könnte sich abwechseln, beim Beaufsichtigen und Dabei sein“, erwiderte ich, „Ist es denn tatsächlich für so viele Menschen so lange her, dass sie Kinder waren? Erinnern sie sich nicht mehr daran, dass sie Spaß hatten?“

„Man hat keine Zeit“, erklärte Jesus, „Man muss das Haus aufputzen, vor allem außen. Auch innen, damit alle sehen wie vorbildlich man sich auf Weihnachten vorbereitet. Wenn wer auf Besuch kommt, dann wird er die wunderschöne Dekoration loben und die weihnachtliche Stimmung, aber sicher nicht, dass die Kinder Spaß haben, schon gar nicht die Erwachsenen. Dazu ist das Leben viel zu ernst, um Spaß zu haben. Stundenlang beim Punschstand stehen, das geht schon, aber Schneemannbauen nicht. Es ist nicht wichtig. Es hat keinen Sinn. Zwecklosigkeit im Spiel. Das will man sich verbeten haben. Deshalb sitzen die Kinder in ihren Zimmern. Mit Playstation und all den anderen Spielkonsolen. Da kann nichts passieren.“

„Und sie fressen sich dabei fett und krank“, ergänzte ich, „Wegen der Einsamkeit und dem Abgeschoben werden in den Überfluss. Geh spielen, Du hast doch alles“, überlegte ich, „Alles, außer jemandem, mit dem man es teilen könnte, alles, außer jemandem, der einem zuhörte, Geschichten vorlas, in den Arm nahm.“

„Während in anderen Teilen der Welt Kinder keine Kindheit haben“, sagte Maria, „Sie müssen im Bergwerk arbeiten. Oder in der Fabrik. Oder auf den Feldern. Oder im Krieg. Oder im Bordell. Doch man muss gar nicht so weit weg gehen. Auch hier gibt es Kinder, die frieren oder hungern müssen, weil es am Nötigsten fehlt. Man schämt sich. Deshalb werden die Türen geschlossen. Armut versteckt sich, weil es niemand wissen soll. Man ist ein Verlierer, ein Versager, in einem System, das nur Gewinner duldet. Armut stigmatisiert. Es gibt daran nichts zu beschönigen. Es ist das Los der anderen. Immer der anderen, denn die Armut macht stumm. Man mag nicht darüber reden, zieht sich noch mehr zurück. Die anderen wollen nicht anstreifen.“

„Tür an Tür. Armut und Wohlstandsvernachlässigung“, meinte ich, „Es kommt mir vor, als gäbe es nur Extreme. In Familien, die ihren Kindern vorlesen könnten, bevorzugt man eine Maschine, die das übernimmt. Man hat keine Zeit. Dafür gibt es schließlich diese ausgeklügelten Geräte, damit man die Kinder beschäftigt, während sich die Eltern ihrem eigenen Leben widmen. Es ist wichtiger. Kaum sind sie auf der Welt, gilt die einzige Sorge, wie man sie wieder loswird. Schließlich kann man nicht sein ganzes Leben auf den Kopf stellen lassen, von den Kindern. Dabei ist es doch das Schönste, sein Leben auf den Kopf stellen zu lassen, oder vielleicht vom Kopf auf die Füße, weil es bisher in Schieflage war und man vor lauter Arbeiten nichts mehr sah, nichts vom Glück und der Schönheit der Welt, nichts vom Lachen und der Freude an Dingen, die keinen Nutzen hatten, außer dem Spaß zu haben. Aber es ist keine Zeit dafür.“

„Und dann sind die Eltern, die ihren Kindern gerne vorlesen würden“, ergänzte Maria, „Es geht nicht. Weil sie nicht lesen können, vielleicht. Weil sie sich keine Bücher leisten können. Weil sie nicht die Kraft haben. Zwei Jobs, und immer noch reicht es nicht zum Leben. Gerade mal zum Überleben. Man hat keine Kraft sich den Kindern zu widmen. Man hat nicht die Geduld. Man ist ausgelaugt. Das Leben zu verlieren, noch bevor es richtig begonnen hat. Es gibt keine Aussichten. Keine Perspektiven. Sinnlosigkeit liegt in der Luft und verpestet jeden positiven Ansatz. Immer nur Extreme. Dazwischen gibt es wenig. Und der Alkohol spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Eltern trinken, trinken viel zu viel. Um dem Alltag zu entfliehen. Die Kinder machen es ihnen nach, sobald sie können. Noch mehr Zerstörung. Das Geld zu verpulvern, das sowieso nicht reicht. Deshalb erklären die Macher der sozialen Unterstützung, wir machen Gutscheine, nur für Essen und zur Befriedigung der Grundbedürfnisse. Wir finanzieren keinen Alkohol. Sie erklären es, während sie Champagner schlürfen. Sie haben es sich auch hart erarbeitet. Auch die Putzfrau, die aus dem ehemaligen Osten kommt, arbeitet hart. Und kann sich den Champagner nicht leisten. Man spart sich die Sozialabgaben. Das hat miteinander nichts zu tun, wird behauptet. Sie sollten doch einfach nur fleißig sein. Man weiß ja wie diese Menschen sind. Faul. Deshalb sind wir reich und sie arm. Auch die Sozialschmarotzer. Sie wollen einfach nicht arbeiten, denen ist nicht zu helfen. Es ist nicht einzusehen, dass sie ein arbeitsloses Einkommen beziehen, während wir uns krumm arbeiten. Krumm arbeiten? Auf den Empfängen und Soireen, auf den Vernissagen und Banketten. Man umgibt sich mit Kunst und Kultur. Die haben keine Kultur. Auch keine Kunst. Sie müssen sich aufs Überleben konzentrieren. Und darauf es uns nachzumachen. ‚Wenn Du nur …‘, wird ihnen gesagt, aber die sehen, dass es ganz egal ist was sie machen. Sie kommen nicht heraus. Ständig diese Lügen. Der Betrug um ein Leben. Eins ums andere. Und die Kinder, die alles haben, sitzen inmitten dieses Alles-habens, überall blinkt und spricht es, nur menschliche Stimmen gibt es keine. Wenn das Kind was sagt, dann ist da eine. Die einzige. Man sieht nur kurz nach. Ob das Kind auch brav ist. Ob es zur rechten Zeit zu Bett geht. Man bringt es in die Schule. Mit dem Auto, weil es keine fünf Schritte zu Fuß gehen kann. Es könnte was passieren. Das Leben zum Beispiel, oder noch Schlimmeres. Es wird abgeholt, am späten Nachmittag, wenn man die volle Betreuungszeit ausgeschöpft hat. Dem Abstellen in den öffentlichen Institutionen folgt das Abstellen im Kinderzimmer. Irgendwann liegt dann ein Brief im Zimmer und da steht, dass es das Kind nicht mehr ausgehalten hat. Man findet es tot. Man versteht es nicht. Man hat doch immer alles getan. Man hat so viel investiert. Letzteres sagt man zwar nicht laut, aber man meint es. Es weiß jeder, dass man es meint, dass all das schöne, investierte Geld nun futsch ist. Man hat alles getan, außer dem einen, mit dem Kind eine Beziehung zu haben, bei ihm zu sein, Sicherheit und Zuversicht, Sinn und Freude zu schenken und zu erhalten, es zu lieben. Die ganze Unsinnigkeit wird darin sichtbar. Und doch sieht es niemand. Man ist am Boden zerstört und versteht die Welt nicht mehr. Es hat doch alles gehabt. Immer und von Anfang an. Sprachlosigkeit, weil keiner zuhörte, während nebenan ein Kind im Finstern sitzt, im Kalten. Weil kein Geld da ist für die Stromrechnung. Und es hat Angst. Wenn der Papa wieder getrunken hat, dann setzt es Schläge. Es sitzt in seiner Ecke und hat Angst. Auch da ist keiner da. Die Mutter kann das Kind nicht trösten. Nicht beschützen. Sie hat nicht einmal Trost oder Schutz für sich selbst. Es geschieht, Tür an Tür.“

„Und inmitten dieser Extreme, da ist ein Kind in einer Krippe, das Symbol des Angenommen-seins und der Annahme“, schloss ich, „Es wird in den Armen gewogen und angelächelt, angesprochen und gehalten. So wie es sein soll. Ein Dach über dem Kopf und ein warmes Lager, es braucht nicht mehr um sich geborgen zu fühlen. Es könnte so einfach sein.“

 

Weihnachten wiederzuentdecken als ein Fest der Annahme, so dass sich mir ein weiterer Aspekt des Sinns von Weihnachten erschloss, und ich gleichzeitig dachte, dass wir wohl noch nie so weit davon entfernt waren.

Adventkalenderbücher

Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten

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Das leere Geschäft

Der Pilgerweg

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2 Gedanken zu “Auf der Suche nach dem Sinn von Weihnachten (17): Ihr Kinderlein kommet

  1. oma99 sagt:

    Immer wieder erfreuen mich Deine Texte, die so klar und doch komplex zeigen, dass uns ein Miteinander, ein wirkliches Miteinander mit Nähe, Verständnis, füeinander da sein, einfach fehlt oder zumindest viel zu wenig begegnet. Das wir uns die falschen Vorbilder auswählen, nur weil es alle so machen oder weil es so einfacher sei, aber auch, weil wir so gerne dem eigenen Ego frönen und dafür gerne so manches zu übersehen bereit sind.

    1. novels4utoo sagt:

      Wenn man es einmal erkannt hat, was wirklich gute Momente sind, eben das wirkliche Miteinander, dann ist es wie ein Ankommen, ein zu Hause finden und bleiben können. So wie ich es bei Dir erlebe. Danke für Deine Worte und Dein Geschenk des Miteinander.

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