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Life is too short for boring stories

Es war an einem verregneten, deshalb auch nasskalt zu nennenden Montag im November um 5.40 Uhr, als die erste verhaltene Meldung zwischen den Sicherheitsleuten der U-Bahn gemacht wurde.

„Achtung, verdächtiges Subjekt steht im dritten Wagon der Garnitur der U6, die gerade die Station Siebenhirten verlassen hat“, lautete diese und alle, die Sicherheitsleute in ganz Wien, konnten sie mitanhören, ja mussten, und waren dementsprechend in höchster Alarmbereitschaft. Was für ein Segen war es doch, dass es nun flächendeckend Videoüberwachung gab. Die neue Regierung, die sich mittlerweile auch schon ein wenig abgenutzt hatte, hatte in allem recht behalten, denn wenn man nicht genau hinsähe, wie viele dieser ungeheuren Verbrechen würden einem entgehen. Aber zurück zu eben jenem verdächtigen Subjekt.

„Das verdächtige Subjekt nähert sich der Perfektastraße. Sollte nicht auch überprüft werden, ob die Geschwindigkeitsbegrenzung nicht überschritten wird. Es bewegt sich auffallend schnell“, erklärte ein übereifriges Sicherheitsleut.

„Hör mal, nur weil Du mal bei der Verkehrspolizei warst, brauchst Du das nicht überall heraushängen lassen“, mischte sich ein anderer ein, „Der fährt U-Bahn, die kann keine Geschwindigkeitsbegrenzung überschreiten.“

„Danke, verstanden“, meldete sich ersterer wieder zu Wort, „aber das was er macht ist noch viel schlimmer, als eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Ich wünschte, er hätte nur das auf dem Kerbholz. Und es wird von Station zu Station schlimmer.“

„Verdächtiges Subjekt trägt einen Hut mit schmaler Krempe, eine schwarze Jacke und eine ebensolche Hose. Ich nehme an aus Flanell“, folgte eine weitere Beschreibung des mutmaßlichen Täters, denn so lange es sich nur um ein mutmaßliches Verbrechen handelt, muss man mutmaßlich sagen, sonst wäre es ein richtiges, und das ist erwiesen, wenn es ausjudiziert ist, „Er steht im Wagon, hält sich an einer Stange fest, während der Wagon und der Rest der Garnitur bereits auf dem Weg nach Alterlaa sind. Menschen steigen aus und andere ein, und jeder einzelne von ihnen ist mit diesem anrüchigen Verhalten konfrontiert.“

„Ich kann es sehr deutlich erkennen. Es ist so erschreckend, ich wünschte, ich hätte das nie sehen müssen“, gab Ersterer nun wieder an.

„Was sollen wir tun?“, fragte Zweiterer, „Sollen wir noch zuwarten, vielleicht war es doch nur ein unwillkürlicher Reflex, oder sollen wir ihn anhalten und aus dem Verkehr ziehen, bevor es noch schlimmer wird?“

„Vielleicht sollten wir eine Lautsprecherdurchsage machen, dass die Menschen schon mal vorgewarnt sind“, schlug der Erste vor.

„Das ist eine großartige Idee“, meinte der andere, und alle anderen, die an ihren Funkgeräten mitgehört hatten, gaben ein zustimmendes Murren von sich, so dass wenige Minuten danach folgende Durchsage erscholl und die gesamten Fahrgäste, aber auch das U-Bahn-Personal zum Schlottern brachte:

„Achtung! Achtung im dritten Wagen der Garnitur der U-Bahn-Linie mit der Nummer 6, die sich mit rasender, aber vorschriftsmäßiger Geschwindigkeit der Station Meidlinger Hauptstraße nähert, befindet sich eine verdächtige Person. Sie steht in der U-Bahn und lächelt die anderen Fahrgäste an. Ja, sie haben richtig gehört. Doch nicht genug damit. Dieses ungebührliche Verhalten findet bereits Nachahmer. Die Menschen lächeln zurück, an einem verregneten, also nasskalten Montagmorgen im November, um 6.11. Man hat sogar schon das eine oder andere Lachen vernommen. Die Menschen, wildfremde und solche, die es normalerweise gerne sind, fangen an miteinander zu reden. Achtung! Es besteht höchste Ansteckungsgefahr, an guter Laune und Empathie. Retten Sie sich, indem sie großräumig mit der U-3 oder der U-4 ausweichen oder verzichten Sie heute überhaupt auf die U-Bahn und steigen Sie auf die Straßenbahn um. Da sind Sie dem schlechten Wetter näher, und sind so besser immunisiert gegen gute Laune.“

Alle schlotterten und folgten gehorsam den Anweisungen. Wirklich alle? Nein, ein paar weigerten sich, nämlich die Fahrgäste im dritten Wagen der U-6, die jetzt beinahe die Station Nussdorfer Straße erreicht hatte. Die hatten nämlich einfach Spaß. Nach und nach erreichten auch sie ihre Stationen und verabschiedeten sich frohgemut von den Mitfahrenden. „Was für ein schöner Tag“, dachten sie, und gingen beschwingt ihren Beschäftigungen nach.

 

Andernorts stand ein adretter Jüngling am Fenster und sah hinaus in den tristen Novemberregen, dessen Ohren vor lauter Spitzen noch länger wurden. „Wenn das Schule macht“, dachte er bekümmert, „Es ist schwierig Untertanen bei der Stange zu halten, wenn sie Freude empfinden, anstatt Angst. Vielleicht sollte man mit einem generellen Lächelverbot in U-Bahnen beginnen.“

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2 Gedanken zu “Achtung! Ansteckungsgefahr!

  1. Nadine Hoffmann-Voigt sagt:

    Klasse! “Kurz” gesagt: Klasse!

    1. novels4utoo sagt:

      Danke, das freut mich sehr!

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