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Life is too short for boring stories

Wirkmächtig ist das Wort. Einmal ausgesprochen, kann es nicht mehr zurückgenommen werden. Wie ein Gedanke, der nur ein einziges Mal durch den Kopf blitzte um gleich wieder zu verschwinden, doch er hinterlässt Spuren. Niemals wieder kann man hinter das einmal Gedachte wieder zurück. Noch schwerwiegender ist es mit dem Wort. Einmal ausgesprochen steht es im Raum und es gibt kein Zurück mehr, kein Ableugnen und kein Weigern. Es steht da wie der Stab, an dem sich der Hörende aufrichtet oder wie ein Mahnmal, das ewig erinnert, unverrückbar und unzerstörbar. Worte können bewegen und aufrichten, bereichern und Trost schenken, Hoffnung verheißen und Zuversicht erwachsen lassen. Aber es kann auch richten und aburteilen, Schmerz und Leid zufügen, verhöhnen und verspotten, erniedrigen und vernichten. Deshalb tragen wir die Verantwortung für jedes noch so unbedachte Wort, die Verantwortung für den gesprochenen und nicht mehr rückholbaren Gedanken, die Verantwortung für die Wirkmacht beim Hörenden.

Wirkmächtig ist das Wort, das gesprochene, aber noch mehr das geschriebene. Sie wirken über das einmalige Hören hinaus, werden hinausgetragen in die Welt und schaffen Verbindungen über die Zeiten, Generationen und Ansichten hinweg. Warum wären sonst so oft Bücher verbrannt worden, wenn sie nicht Auswirkungen hätten auf das Denken der Menschen, wenn sie nicht wirkmächtig wären, wenn sie nicht beeinflussten?

 

Habe den Mut Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen – sagte einst Kant, und immer noch wird er rezitiert, auch wenn wir immer noch nicht begriffen haben, dass der eigene Verstand mehr sein könnte als die Ansammlung von normalen, durchschnittlichen Gedanken, mehr Raum und Möglichkeiten hätten.

 

Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen – ein wahrhaft großer Satz, der den Schwätzern und Möchtegern-Wissenden Einhalt gebieten sollen.

 

Nicht enden wollend wäre diese Liste, und wenn ich über den einen oder anderen Satz stolpere, egal von wem oder von wann und er trifft mich, dann bin ich eingetreten in den Dialog mit jenen, die lange vor uns waren, die uns zeigen, dass sich das Menschliche nicht verliert, die gründenden Fragen und Antwortversuche. Dann werden die Worte lebendig, als Gedanken derer, die längst nicht mehr sind. Dann versinke ich in einer anderen Welt, die sich mir eröffnet und meine bereichert. Ich lese, weil ich weiß, dass es noch so vieles gibt, was hörenswert ist, weil wohl jeder Gedanke schon einmal gedacht wurde, aber mir je im Moment des Ins-Dialog-tretens neu erscheint und wertig. Das ist der Grund warum ich lese, weil sich der Raum des Dialogs weitet über die Unmittelbarkeit des Sprechens hinaus, weil es mich hinausträgt über die engen Grenzen meiner eigenen Lebenswelt, weil es Fragen aufwirft, die vorher nicht gewärtig waren und Antworten zu geben vermag, zu denen ich keinen Zugang hatte. Lesen bedeutet Verstehen und Annehmen über unsere eigene Einengung hinweg, über uns selbst hinaus. Wenn wir bereit sind zu hören, uns dies offen und unvoreingenommen zusprechen zu lassen, so sind wir in den Dialog eingetreten und stehen darin, und die Worte fließen zwischen Dir und mir, denn jede Ansprache, und sei es eine geschriebene, verlangt Antwort und Stellungnahme. Und ich antworte, indem ich die Worte mich beeinflussen und verändern lassen.

 

Lesen bedeutet Dialog über die engen Grenzen des einen, kleinen Lebens hinweg.

Aus: “Anonym. Begegnungen”


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