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Life is too short for boring stories

9. Das Kästchen

 

Lilith hatte ein Kästchen vor sich stehen, als Ruben an diesem Morgen das Geschäft betrat. Das Kästchen stand dort und Liliths Blick ruhte darauf. Es war nichts weiter als ein Kästchen, ein kleines, unscheinbares Kästchen aus Pappe, braun und ein wenig abgenutzt. Weder Aufschrift noch Verzierung fanden sich darauf. Und doch wusste Ruben sofort, dass es für Lilith eine Bedeutung hatte, wenn er aus ihrem Blick auch noch nicht schließen konnte welche.

 

„Es ist wenig, was von einem Leben bleibt, letztendlich“, sagte Lilith unvermittelt, als hätte sie den Satz aus einem langen Gedankengang gerissen und Ruben einfach so vor die Füße geworfen, ihn zu nehmen oder zu lassen.

„Wenig, wenn wir uns auf Dinge beziehen. Wenig, wenn wir uns nur auf das verlassen, was wir wissen“, antwortete Ruben schlicht.

„Hier, in diesem Kästchen, sind all die Dinge aufbewahrt, die diese Momente symbolisieren, die wirklich entscheidend sind. Ein paar Dinge, nichts weiter. Weichenstellungen. Dabei ist dieses Kästchen noch nicht einmal voll“, sprach Lilith weiter, als hätte sie es nicht gehört, was Ruben sagte, „Und soll das dann alles gewesen sein? Soll ich mich damit begnügen müssen, mit diesen paar unsinnigen Dingen da drinnen? Als mein Leben?“

„Was ist denn da drinnen?“, fragte Ruben, denn trotz allem hatte sie seine Neugierde geweckt.

„Eigentlich ist es Mist. Es holt doch nichts zurück. Alles vorbei. Vergessen. Unsinnig“, erklärte Lilith, als sie es plötzlich nahm und sich anschickte zum Ofen zu gehen, „Ich sollte es verbrennen. Es ist doch genau so gut.“

„Halt!“, rief Ruben, während er sie gleichzeitig am Arm packte, „Das darfst Du nicht machen!“

„Du tust mir weh“, sagte sie kurz aber bestimmt. Verschämt lockerte Ruben seinen Griff.

„Entschuldige, aber das wollte ich nicht“, erklärte er verschämt und dementsprechend ruhiger, „Aber lass mich doch einmal hineinsehen. Wäre es nicht schade darum?“

„Natürlich ist es schade darum!“, meinte Lilith trocken, „Aber noch mehr schade ist es um all die Jahre, die dahingingen, und von denen nichts blieb als dieses kleine Kästchen mit Müll. All die Jahre. Mein Leben. Oder was das auch immer gewesen sein soll!“

„Komm, setz Dich zu mir, und lass uns darüber reden“, forderte er sie auf, die Hand immer noch auf ihrem Arm, doch sanft und schützend jetzt und nicht mehr bedrohlich.

„Dann schau halt mal. Wie erbärmlich das doch alles ist“, erklärte sie. Dennoch setzte sie sich neben ihn. Verstohlen öffnete er die Kiste. Verstohlen, weil es ihm ein wenig so vorkam, als würde er in einen Bereich eindringen, der so intim war, dass er eigentlich darinnen nichts verloren hatte. Ein Ort, den bis jetzt nur Lilith betreten hatte. Andererseits hatte sie ihn aufgefordert ihn zu besichtigen.

 

Das erste was Ruben ins Auge fiel waren ein Packen Briefe. Ein schmaler zwar, aber immerhin. Beinahe wäre ihm ein Lächeln ausgekommen, doch er schaffte es noch rechtzeitig es zurückzuhalten, denn das wäre wohl nicht angebracht gewesen. Doch wer hätte nicht gelächelt, wenn ihm bewusst wurde, dass sie beide, er und sie, aus einer anderen Zeit stammten, als man noch Briefe schrieb, die eine Bedeutung hatten. Man konnte sie aufbewahren und ein rotes Band darum winden, das man dann mit einer Masche verschloss. Man konnte sie aufheben und immer wieder ansehen. Man konnte sich in dunklen Momenten daran erinnern, dass es auch einmal anders war. Und dann konnte es passieren, dass die dunklen Momente noch dunkler erschienen, weil die Momente damals so hell waren. Vielleicht sollte Lilith sie wirklich ins Feuer werfen. Aber auch die Fotos ihrer Kinder? All die kleinen Erinnerungsstücke an das Leben mit ihnen, die sie so sorgfältig aufbewahrt hatte? Sachte schloss Ruben das Kästchen wieder und gab es Lilith zurück.

 

„Ich denke“, begann er, und sie merkte, dass er jedes einzelne Wort sorgfältig wählte, bevor er es aussprach, so sorgfältig, als müsste er aus einer fremden in die eigene Sprache übersetzen, „Es ist egal ob Du es verbrennst oder nicht. Vielleicht ist es momentan Dein Wunsch es zu tun. Momentan Dein Wunsch sie loszuwerden. Doch wirst Du sie wirklich los? Und vor allem, willst Du sie wirklich loswerden?“

„Aus den Augen aus dem Sinn“, meinte sie trocken und nahm das Kästchen an sich.

„Vielleicht aus dem Sinn, doch nicht aus Deinem Herzen, nicht aus Deinem Fühlen“, sagte er, immer noch nachdenklich, „Denn all diese Momente werden vielleicht durch die Dinge in dem Kästchen repräsentiert. Es fällt Dir mit ihnen leichter Dich daran zu erinnern, aber Deine Gedanken werden Dich immer wieder dorthin zurückführen, auch wenn Du das Kästchen mitsamt seinem Inhalt ins Feuer wirfst.“

„Es wäre ein symbolischer Akt“, erklärte sie ruhig.

„Symbolisch ja, aber auch nicht mehr“, wandte er ein, „Doch willst Du sie denn wirklich loswerden? Jeder einzelne dieser Momente war ein gelebter Moment, ein Moment, der Dir das Leben verzauberte und etwas mit Dir machte. Du kannst solche Momente nicht erleben, ohne dass sie etwas in Dir verändern, Dich verändern. Es sind Geschenke des Lebens an Dich und sie haben Dir Licht geschenkt und Wärme und Freude. Warum willst Du sie dann loswerden? Sicher, sie liegen hinter Dir, und es gibt auch die anderen, die dunklen Momente, aber warum das Licht entfernen, nur, weil es daneben auch Dunkelheit gibt? Sie sollten für sich stehen, Dich motivieren und anspornen.“

„Motivieren und anspornen?“, wiederholte Lilith leise, mit einem fragenden Unterton, und er sah, wie sie die Augen schloss. Sie ging weg von ihm, weit weg in Raum und Zeit. Er ließ sie gewähren. Es war ihre Reise und er hatte kein Recht sie zu unterbrechen oder sich einzumischen. Auch wenn es ihm nicht leicht fiel, aber er wollte es erwarten, das Lächeln, das auch kam.

„Motivieren und anspornen“, wiederholte Lilith, als sie die Augen wieder geöffnet hatte, „Du hast recht, letztlich tut es gut daran zu denken, und dann breitet sich auch das Licht in die Dunkelheit aus, überlagert sie. Und ich sehe es wie es ist: Geschenkte, glückliche Momente.“

 

Das erste Lächeln an diesem Tag, das er von ihr geschenkt bekam. Die erste Zuwendung. Und dann erzählte sie von diesen geglückten, lebendigen Momenten. Dann nahm sie ihn mit auf die Reise in eine Vergangenheit, die doch immer präsent ist, wenn sie diesen in ihrem Erzählen Leben einhaucht. Es ist gut das Leben zu bewahren, wenn es uns im Jetzt befördert.

 

Und an diesem Abend stellte sie das Kästchen in die Auslage, denn gute Momente, lebendige Momente des Miteinander, des Erlebens, kann man sich nur schenken lassen. Es ist gut, wenn man sie annimmt und sich bereichern lässt. Es ist gut sie zu leben. Und manchmal ist es einfach gut sich ihrer zu erinnern.

Hier gehts zu Teil 10

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